Vollmondkuss
Roubens Augen verdunkelten sich. »Das brauchst du mich nicht zu fragen«, fuhr er mit ernster Miene fort. »Und du musst mir auch nichts erklären. Wir haben beide eine Scheißzeit hinter uns, wenn ich das mal so vereinfacht zusammenfassen darf. Und mir ist schon klar, dass wir all das nicht einfach vergessen und ganz sicher noch Hunderte Male darüber reden werden. Aber das, was eigentlich zählt, Jolin, ist doch, dass wir zusammen sind. Und deshalb möchte ich nach vorne schauen und mich darauf freuen, dass du mich schon bald in die Arme nehmen wirst.«
»Na, da wirst du dich wohl noch ein bisschen gedulden müssen«, sagte Jolin zwinkernd.
»Ich weiß«, murmelte Rouben. »So sechs bis zehn Wochen. Bis dahin werde ich dich eben küssen müssen ...« Lächelnd näherte er sich ihrem Gesicht. Jolin blickte in seine Augen und sah die Lebendigkeit darin, sie roch den Duft seiner Haut, und das Verlangen, sie zu berühren, überwältigte sie nahezu. »Zehn Wochen ... Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll.« Sie hob ihr Kinn und umfasste mit ihren Lippen zärtlich Roubens.
»Ich liebe dich, Jolin«, sagte er leise. »Du ahnst ja gar nicht, wie sehr.« Er streichelte ihr Gesicht und ihren Hals, und dann küsste er sie so sanft und zärtlich, so sehnsüchtig und leidenschaftlich, dass sie für einen Moment sogar ihre eingegipsten Arme vergaß und voller Seligkeit mit ihm im Sonnenlicht tanzte.
Nachdem Ramalia sich von ihrem Sohn verabschiedet hat, eilt sie in das herrenlose, verfallene Haus zurück. Es ist Roubens Heimat, er hat nichts außer diesen Wänden, und er wird hier leben müssen, bis er sich in sein sterbliches Leben eingefunden hat. Sechzehn lange fahre ist sie seine Lehrerin gewesen. Sie hat ihm Bücher besorgt und ihm ihr ganzes Wissen zur Verfügung gestellt. Sie weiß, dass er noch vieles nachzuholen hat, aber sie weiß auch, dass er es schaffen wird. Er ist ein wunderbarer Mensch geworden, der viele Freunde haben wird. Jolin hat ihn mit ihrer Liebe auf ewig zu sich gerufen. Er wird bei ihr bleiben, sie schützen und sich von ihr helfen lassen. Ramalia kann sich wirklich kein schöneres Paar vorstellen.
Sie schließt die Tür hinter sich und steigt langsam die knarrenden Stufen ins obere Stockwerk hinauf. Als sie das Zimmer unter den zerborstenen Dachbalken betritt, dämmert es bereits. Der Himmel ist klar, der abnehmende Mond bereits untergegangen. Hier und da leuchten matt noch ein paar Sterne. Am Horizont erstrahlt bereits ein heller Streifen. Ein warmes Rosagold lässt die Sonne schon erahnen. Langsam lässt Ramalia sich auf den Kissen nieder. Sie faltet ihre Röcke auseinander und holt drei Hände voller Munden daraus hervor. Sie stammen aus vielen verschiedenen Jahrhunderten. Ramalia hat sie in der Vergangenheit gesammelt, einfach, weil sie ihr gefielen. Jetzt sind sie Roubens Zukunft und inzwischen wohl hunderttausendmal mehr wert als das Gold, aus dem sie bestehen. »Du wirst ein wunderschönes Haus haben, mein Sohn«, sagt sie, während sie gegen das Licht der aufgehenden Sonne anblinzelt. »Du wirst sehr, sehr glücklich sein, und schon bald wirst du zum ersten Mal das Fest der Liebe feiern. Mit deiner Jolin, mit ihren Eltern, mit Anna, Klarisse, Leon-hart, Carina, Rebekka, Melanie und ...« Es gefällt Ramalia, was sie sieht. Sie breitet die Arme aus, lässt sich von einer sanften Morgenbrise aus dem Dachfenster wehen und schwebt als feiner Glitzerstaub der Sonne entgegen.
- ENDE -
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