Halbe Leichen (Ein Lisa Becker Krimi) (German Edition)
Eins
Es war mal wieder einer dieser ganz speziellen Tage, als der erste Mord geschah. Also konnte sich Lisa Becker nicht beschweren. Das fehlte ihr gerade noch: Gut gelaunt beim Dienst erscheinen, fröhlich pfeifend einen Kaffee eingießen, nur um dann zu hören: In Lichtenberg wurde ein Mann geköpft. Die Bude sieht aus, als wäre ein Schwein explodiert, der Mann ist völlig ausgeblutet. Fahr mal hin und guck dir das an, ja?
Nein, da war es schon besser, dass dies einer von jenen Tagen war, an denen es auch nicht mehr drauf ankam. Lisa hatte nicht richtig schlafen können, weil das haarige Monster aus dem ersten Stock wieder einmal blau war wie ein acht Wochen altes Aldi-Weißbrot und laut Selbstgespräche geführt hatte, in denen es sich größtenteils um das Ausländergesindel im allgemeinen und den Besitzer der Döner-Bude die Straße runter im speziellen gedreht hatte, der ihn anscheinend nicht hatte bedienen wollen. Komisch, warum bloß? Lisa hätte ihm einen ganzen Kasten Schultheiß geschenkt in der berechtigten Hoffnung, die Sau würde von irgendjemandem überfahren.
Als sich die Stereoanlage pünktlich um sechs Uhr dreißig einschaltete, lernte Lisa gleich den neuen Morningshow-Moderator von 104.6 RTL kennen, der die Messlatte für nervtötende Schwachmaten doch gleich noch mal ein paar Zentimeter höher hängte. Eine starke Leistung in einer Privatradio-Landschaft, die nur so strotzte vor chronisch gut-draufen Spaßgranaten, die alles für witzig hielten. Besonders sich selbst.
„ Hey hey ihr Morgenmuffel, lasst doch mal die Sonne rein und gießt euch einen Kaffee ein! Da fällt mir ein: Habt ihr schon gehört? Udo Jürgens hat ’ne Neue! Und ihr Ultraschallbild ist wirklich niedlich...“
„ Halt bloß die Fresse, du Arschsack!“ stöhnte Lisa über diesen uralten Witz. Sie schaltete per Infrarot um auf radioeins, was ihre Nerven beruhigte, döste noch ein bisschen rum zu den Klängen von Herbert Grönemeyer und stand dann auf und torkelte aus dem Schlafzimmer in Richtung Bad, um dort die morgendlichen Formalitäten zu erledigen. In der Diele bemerkte sie frustriert, dass sie wieder sowohl in der Küche als auch im Wohnzimmer das Licht hatte brennen lassen. Außerdem war die Tür aus dem Wohnzimmer zum kleinen Garten im Innenhof offen, was nur bedeuten konnte, dass die Einbrecher Berlins letzte Nacht Betriebsversammlung gehabt hatten, denn gestohlen war offensichtlich nichts. Trotzdem – was für eine Art Polizistin war sie eigentlich?
Ständig musste sie sich das fragen. Eine Minute später schon wieder. Lisa dachte beim Zähneputzen darüber nach, ob ihre elektrische Zahnbürste in irgendeiner Form auch als Vibrator zu gebrauchen sein könnte. Aber sie verwarf den verblüffend naheliegenden Gedanken aus hygienischen und gesellschaftlichen Gründen. Sie musste sich wirklich zusammenreißen. Lisa konnte sich nur schwer damit abfinden, dass ihr Beruf sie irgendwie gar nicht zu verändern schien. Dabei hatte sie das erwartet, als völlig selbstverständlich vorausgesetzt. Wenn jemand jeden Tag mit Verbrechern zu tun hat (oder zumindest alle paar Wochen mal), dann sollten doch private und profane Betrachtungen wie die Zweckentfremdung von Zahnbürsten oder die Kritik am Niveau der privaten Radiosender nicht mehr eine so große Rolle spielen. Es gab schließlich wichtigeres im Leben, nämlich die Stadt vom Verbrechen zu säubern und so weiter, was man halt so macht bei der Polizei, wenn man nicht gerade Berichte schreibt, rumtelefoniert oder Akten sortiert, wie in etwa 90 Prozent der Zeit.
Lisa bürstete ihr rückenlanges, schwarzes Haar und versuchte, die Mähne so um die Schultern zu drapieren, dass ihr kleines Doppelkinn neutralisiert wurde. Sie war eigentlich ganz zufrieden mit sich, seit sie ihre neunundneunzigste Diät abgebrochen hatte. Sie fand sich hübsch, und es gab immer noch genug Männer, die das ähnlich sahen, das bekam sie durchaus mit. Leider waren das immer nur Typen, denen sie nicht einmal eine Obdachlosenzeitung abkaufen würde.
Während Lisa durch Diele und Wohnzimmer Richtung Küche schlurfte, philosophierte sie weiter über ihren Job. Es fühlte sich überhaupt nicht besonders an, bei der Kripo zu sein. Genauer gesagt beim Landeskriminalamt, was etwas albern war, denn Berlin brauchte offensichtlich kein LKA. In den meisten Bundesländern war diese Behörde ja nur dafür zuständig, den Polizeipräsidenten der einzelnen Kommunen auf den Senkel zu gehen. Aber hier gab es
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