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Vollmondkuss

Titel: Vollmondkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Schroeder
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völlig ausgeschlossen!
    Und trotzdem. Auch wenn Jolin ihn nur von hinten
    gesehen hatte, sie war absolut sicher, dass er es gewesen sein musste und dass es keinesfalls bloß eine Ausgeburt ihrer Phantasie gewesen war.
     
    Das Schulgebäude war alt und baufällig. Paula Johansson hatte hier vor achtundzwanzig Jahren schon ihr Abitur gemacht, und damals war das vierstöckige Haus, das nach dem Ersten Weltkrieg errichtet worden war, noch durchaus ansehnlich gewesen. Inzwischen wurde das ehemals frische helle Blaugrau von einer feinen Schicht aus Schmutz, Ruß und Grünspan überzogen. Von den Sprossenfenstern blätterte die weiße Farbe ab, und an vielen Stellen bröckelte bereits der Putz von den Wänden. Für eine neuerliche Renovierung fehlte der Stadt das Geld und dem Leiter des naturwissenschaftlich ausgerichteten Albert-Schweitzer-Gymnasiums, Peter Rudloff, offenbar der entsprechende Wille. Er war der Meinung, dass die jungen Menschen dieser Generation so gleichgültig, ja geradezu verroht waren, dass es sich kaum lohnte, ihnen hell gestrichene Klassenzimmer mit intaktem Mobiliar und freundlichen Vorhängen zu bieten.
    »Ihr wisst das doch gar nicht zu würdigen!«, hatte er ihnen vor einem knappen Jahr auf der letzten Schülerversammlung vorgehalten. »Einige von euch werden eine Renovierung nur wieder zum Anlass nehmen, die Gardinen herunterzureißen und die Wände zu beschmieren. Hängt zur Abwechslung einfach mal ein paar ansehnliche Plakate auf«, hatte er ihnen empfohlen. »Allein das würde schon reichlich etwas hermachen.«
    »Arschloch«, hatte Anna ihm hinterhergezischt, was er entweder nicht ge- oder geflissentlich überhört hatte, und im Schuljahr darauf hatte sie sich nicht wieder in die Schülervertretung wählen lassen. »Hat doch sowieso alles keinen Sinn«, hatte sie zu Jolin gesagt. »Die meisten hängen hier eh nur rum und bewegen nichts. Wenn man gegen so einen wie den Rudloff anstinken will, braucht man allerdings richtig Biss. Und den hat außer dir hier weit und breit niemand.«
    Du eigentlich auch, hatte Jolin gedacht. Gesagt hatte sie nichts, es hätte ohnehin nichts genützt. Anna hatte bereits damit angefangen, Klarisse cool zu finden, und der war es weiß Gott egal, wie es in der Schule aussah.
    Ja, genau das ist der Grund, weshalb wir nicht mehr befreundet sind, dachte Jolin, während sie die Treppe in den dritten Stock hinaufhastete. Dass sie die meisten Dinge nicht mehr wirklich miteinander teilten, weil Anna inzwischen keine Lust mehr hatte, sich mit Themen zu »belasten«, während Jolin sich mit Hingabe und Leidenschaft für viele Dinge engagierte. Wie gern hätte sie jetzt einfach Anna von diesem Typen mit dem Lederhut erzählt. Es war schrecklich, ständig allein zu sein und niemandem zum Reden zu haben! Eigentlich kein Wunder, dass sie schon ganz kraus im Kopf war!
    Die Tür zum Englischraum stand noch offen. Jolin verlangsamte ihren Schritt, atmete einmal tief durch und versuchte sich wieder zu fangen. Klarisse, Rebekka und die rothaarige Melanie waren bestimmt schon da. Dreiundzwanzig Schüler hatten im zwölften Jahrgang diesen Grundkurs gewählt. Zwei waren wieder abgesprungen. Leonhart hatte sich inzwischen für Spanisch entschieden, und Katrin war bereits nach zwei Monaten zu Anna und Susanne in den Leistungskurs gewechselt.
    Es war ungewöhnlich ruhig im Raum, alle sprachen leise miteinander, hier und da erklang ein unterdrücktes Lachen. Jolin huschte durch die Tür. Während sie auf ihren Tisch zuging, wickelte sie sich den Schal vom Hals. Erst als sie ihre Tasche abgestellt hatte, sah sie ihn: den Neuen.
    Seine Blässe war das Erste, was ihr an ihm auffiel. Selbst vor dem Hintergrund, dass der Herbst nicht besonders sonnig gewesen war und in einem Monat der Winter hereinbrechen würde, war sie ungewöhnlich. Seine Haut war fein und zart ohne die winzigste Unebenheit. Unwillkürlich berührte Jolin ihre Stirn, auf der wie immer ein paar Pickel sprossen. »Hallo«, sagte sie.
    Zögernd zog sie ihren Stuhl zurück und setzte sich neben ihn.
    Er hob den Kopf und schaute sie aus dunklen, fast schwarzen Augen gleichgültig an. »Hallo.« Seine Stimme klang leise, dunkel und ein wenig rau. »Hier ist doch noch frei?«
    Jolin nickte. »Ja. Kein Problem.« Das Lächeln, das sie ihm zuwarf, rutschte ihr aus dem Gesicht. »Ich bin Jolin«, presste sie hervor, während sie ihre Tasche öffnete und die Englischunterlagen hervorholte. »Jolin Johansson.«
    »Rouben.«
    »Was?«

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