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Vollmondkuss

Titel: Vollmondkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Schroeder
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»Norwegen. Schweden oder Finnland.«
    Ihre Mutter lachte. Sie goss die dampfende Milch in ein Kaffeeglas und stellte es vor Jolin auf den Tisch. »Warum nicht gleich nach Grönland?«
    Ja, warum eigentlich nicht?
    Jolin hob das Glas und setzte es an die Lippen.
    »Du weißt, dass das nicht geht«, sagte Paula. »Nicht zu Weihnachten. Dein Vater kann erst...«
    »... Ende Februar Urlaub nehmen, schon klar«, sagte Jolin. Wenn der Schlussverkauf vorbei war, die ersten Frühjahrsmodelle an den Ständern hingen und die Lager wieder voll waren.
    »Warum hast du meine Gardine aufgezogen?«, fragte Jolin. »Und das Fenster geöffnet?«
    Paula hob ihre dunklen, sanft gebogenen Brauen. »Wann?«
    »Heute Morgen. Noch bevor mein Wecker geklingelt hat«, sagte Jolin. Die Milch hatte genau die richtige Temperatur. Sie trank sie mit einigen wenigen Schlucken aus, stand vom Stuhl auf und stellte das Glas in die Spüle. »Du dachtest wohl, ich verschlaf dann nicht, hm?«, fuhr sie grinsend fort und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange.
    »Aber das hab ich doch gar nicht«, sagte Paula. »Ich hab die Gardine nicht aufgezogen. Und das Fenster habe ich selbstverständlich auch nicht geöffnet.« Sie schüttelte den Kopf. »Doch nicht bei den Temperaturen da draußen. Außerdem bin ich heute überhaupt noch nicht in deinem Zimmer gewesen.«
     
    Jolin dachte den ganzen Weg zur U-Bahnstation darüber nach, ob sie nicht vielleicht doch geträumt hatte. Die Luft klirrte geradezu vor Kälte, die Wände der Häuser, die Pflastersteine, die Laternenpfähle, alles war von einer feinen weißen Reifschicht überzogen. Jolin hauchte eine Atemwolke aus und mümmelte sich tiefer in den weichen dunkelblauen Wollschal. Vielleicht war sie eingenickt, ohne es zu merken, und hatte den Inhalt des Romans mit in ihren ersten Traum hinübergenommen. Sie versuchte sich die letzten Seiten des Buches in Erinnerung zu rufen: das Zimmer der Baronesse, das Fenster, das Heulen des Hundes und der Mond, der rund und hell am schwarzen Nachthimmel hing. Dann war da dieses laute Geräusch gewesen, mitten in der Nacht. Ein Auto unten auf der Straße. So real. Aber vielleicht war sie gar nicht auf-gewacht, sondern hatte nur das Fenster der Baronesse geschlossen und war erst ein paar Minuten später wach geworden ... Natürlich! So musste es gewesen sein.
    Erleichtert über diese Erkenntnis ging sie etwas schneller. Jolin war spät dran, wie fast jeden Morgen, wenn sie gleich zur ersten Stunde in der Schule sein musste. Sie hasste es, denn sie kam nicht gern zu spät. Noch mehr hasste sie es, wenn sie hetzen musste, so früh war sie einfach noch nicht richtig wach. Eigentlich wäre sie besser als Vampir auf die Welt gekommen.
    Bei diesem Gedanken musste Jolin grinsen. Sie und ein Vampir! Schon wieder absurd. Zu Klarisse mit ihren glatten schwarzen Haaren und den dunklen Augen hätte das gepasst. Sie war so eine, die sich vom Blut anderer ernährte. Nicht von echtem natürlich, das durch Körper, durch Adern floss, aber vom Seelenblut. Insbesondere von Jolins Seelenblut.
    Zuletzt hatte sie ihr Anna gestohlen, dann hatte sie damit angefangen, den Eifer, mit dem Jolin gegen soziale oder politische Missstände, gegen Tiertransporte oder Ausbeutung asiatischer Arbeiter anredete, zu verhöhnen. Mittlerweile gab es kaum noch jemanden, der mit ihr sprach, mit ihr zusammenstand oder über den Schulhof schlenderte. Und niemanden, der die Freistunden mit ihr bei einem Kaffee und einer Frikadelle in der Marktklause verbrachte oder über Fachliteratur in der Bibliothek hockte und sich auf die Klausuren vorbereitete. Die meisten hingen an Klarisses Lippen, und für die waren eben andere Dinge wichtig. Klamotten, Partys, Typen. - Rebekka, Katrin, Susanne und Melanie waren Jolin ja fast noch egal, aber dass Anna sich ausgerechnet wegen Klarisse von ihr abgewandt hatte, tat ihr wahnsinnig weh. Anna hatte doch was im Kopf, und sie hatte ihren Traum. Tierfilmerin wollte sie werden, Lebensraum und Lebensweise vom Aussterben bedrohter Arten erforschen und dokumentarisch festhalten. Jolin kannte niemanden, der sich so brennend für die Zusammenhänge des Lebens interessierte und eine solche Achtung vor der Natur hatte. Vor einem Jahr hatten sie und Jolin den Biogrundkurs bei der Schreimer belegt. Aber seitdem Anna zu Klarisses Clique gehörte, arbeiteten sie nicht mehr zusammen und redeten nur noch selten miteinander. Außerdem nahm Anna meistens eine U-Bahn vor Jolin, sodass sie

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