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Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Titel: Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvester Walch
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über Sein und Werden des Menschen. Es besteht dabei die Gefahr einer Oberflächenkultur, in der der Mensch nur noch über Hirnbilder oder einfache Reaktionsmuster definiert wird.
    So ist auch die Diskussion über die Willensfreiheit zu verstehen. Sie bezieht sich dabei auf ein einfaches Experiment von Libet. Versuchspersonen wurden veranlasst, mit dem Finger zu schnipsen. Gleichzeitig wurde das sogenannte Bereitschaftspotenzial über die gemessenen Hirnströme herausgefiltert. Dadurch kann man herausfinden, zu welchem Zeitpunkt die Handlung im Gehirn vorbereitet wurde. Erstaunlicherweise entdeckte man dabei Folgendes: Das »Bereitschaftspotenzial« trat etwa eine halbe Sekunde vor der bewussten Entscheidung des Probanden auf. Daraus schloss man, dass der Mensch nicht aus freien Stücken handele, sondern einfach biologischen Abläufen folge. Wenngleich das bei automatisierten Routineaufgaben sicherlich zutreffen mag, so ist es unzulässig, dies auf komplexe Handlungen auszudehnen. Auf die Gefahr der Überinterpretation von Hirnbildern wird in letzter Zeit mehrfach hingewiesen. Zu welchen absurden Schlüssen das führen kann, machte Craig Bennett mit folgendem Experiment deutlich. So legte er einen toten (!) Lachs in den Hirnscanner und wertete die Ergebnisse aus. In einem bestimmten Bereich des Gehirns wurde eine erhöhte Hirnaktivität gemessen. Aufgrund der Ausgangsfrage wäre der Fisch demnach in der Lage gewesen, auf menschliche Emotionen zu reagieren (SZ, 24.9.2009, S.18). Die reinen Daten, die Forscher aus einem Hirnscanner beziehen, sind grauweiße, grob verpixelte Bilder, die dann durch statistische Rechenoperationen in farbige Hirnbilder übersetzt werden. Dadurch wird der Eindruck von Eindeutigkeit und Klarheit vermittelt.
    Die Hybris der wissenschaftlichen Möglichkeiten wird durch die kometenhafte Entwicklung der Computertechnologie begünstigt. Aus komplexen Rechenvorgängen entspringen farbige Simulationsmodelle, die scheinbar die Wirklichkeit exakt abbilden, ohne zu bedenken, dass mathematische Annäherungen nur durch die bisher bekannten Variablen erzeugt werden. Das Internet wirkt dabei multiplikatorisch, denn in den Tiefen der virtuellen Kommunikationswelten bleibt nichts mehr verborgen. Jeder und jedes kann zu jedem Zeitpunkt an jedem Ort in Sekundenschnelle abgerufen werden. Das birgt die Gefahr in sich, dass das »Verfügen-Wollen«, das »Schneller-und-Besser«, das »Haben-Wollen«, kurz die Effizienzsteigerung um jeden Preis zur Maxime erhoben wird. Humanität und Innerlichkeit müssen zwangsläufig auf der Strecke bleiben, wenn der Lebensrhythmus nur noch von außen vorgegeben wird. Wir verlieren uns dabei selbst und hören nicht mehr, was von innen kommt, denn die Stille wird zur Zeitverschwendung. In der virtuellen Scheinwelt wird Intimes vergesellschaftet. Die uns überflutende, sich selbst ständig multiplizierende Informationsredundanz führt zu einer oberflächlichen und floskelhaften Kommunikation. Die Folgen sind fragmentarisierte Beziehungen, innere Leere und Langeweile.
    In diesem Spannungsfeld, in dem gleichzeitig Hektik und Inaktivität zunehmen, vermindert sich die Resonanzfähigkeit, also auch die Schwingung mit sich selbst. Dadurch geht allmählich das Gefühl für die eigene Wesensnatur verloren. Ein Mensch, der dauerhaft sein Inneres vernachlässigt und sein Entfaltungspotenzial zurückstellt, erkrankt durch sich selbst. Die Krise der Moderne hat genau damit zu tun. Wenn nämlich äußeres Erkennen, reduktive Strategien, Scheinobjektivität, Rationalität, Effektivität und eindimensionales Denken den Kanon der Wissenschaften bilden, wird nicht berücksichtigt, wie wenig eigentlich über die Natur des Menschen bisher klargeworden ist. Emanzipatorische Prozesse werden dadurch behindert, obwohl deren Förderung beabsichtigt ist. Es ist sicherlich nicht überraschend, dass dieser einst revolutionäre Aufbruch eine autoritäre Wissenschaftsdoktrin hervorgebracht hat. Wenn sich ein neues Paradigma erst einmal durchsetzt, fungiert es selbst als Machtfaktor.
    Es ist gar nicht so lange her, dass sich die psychologische Forschung noch der Bedeutung der Introspektion bewusst war. Der fatale Versuch, als naturwissenschaftliches Fach Anerkennung zu finden, brachte diesen Erkenntnisweg in Misskredit. Nicht nur in der Psychologie, sondern auch in vielen anderen Wissenschaften schmälerte ein einseitiger und monopolisierender Wissenschaftsbegriff, dem ein materialistisches Weltbild zugrunde

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