Vom Mondlicht berührt
zu machen.
Auch Jeanne bestand darauf, zu bleiben. Sie lief umher, verteilte Teller mit Häppchen auf jeder sich anbietenden Oberfläche und räumte das schmutzige Geschirr wieder ab.
»Darf ich dir etwas Besonderes zaubern, meine Süße?«, fragte sie und umarmte mich zum millionsten Mal, seit wir nach La Maison zurückgekehrt waren. Beim ersten Mal hatte ich geweint, doch nun schien der Tränenstrom versiegt. In mir war alles taub.
»Ich kann nichts essen, Jeanne.«
»Ich weiß«, sagte sie und tätschelte meine Schulter. »Aber ich wollte es dir trotzdem anbieten. Mehr kann ich gerade leider nicht für dich tun.«
Gegen Mitternacht sagte ich zu Ambrose, dass ich mir die Füße vertreten würde. Ich hielt diese düsteren Gesichter und geflüsterten Gespräche einfach keine Sekunde länger aus. »Ich komme nachher wieder. Ich gehe einfach etwas spazieren.«
»Dann begleite ich dich.«
Mit einem Kopfschütteln fragte ich ihn: »Ambrose, glaubst du ernsthaft, dass nach der Jagd, die ihr heute auf die Numa gemacht habt, überhaupt noch welche in Paris herumlungern?«
»Nein, aber es gibt da draußen ein paar Sterbliche, die dir ähnlich gefährlich werden könnten.«
Ich versuchte zu lächeln. »Ich pass schon auf mich auf. Wenn ihr irgendwas hört –«, setzte ich an.
»Dann ruf ich sofort an«, unterbrach er mich. »Versprochen.«
»Danke, Ambrose.«
Ich huschte durch das Eingangstor hinaus und machte mich auf den Weg zum Fluss. Als ich am Ufer angelangt war, nahm irgendetwas Besitz von meinen Armen und Beinen und ich fing an zu rennen. Meine verletzte Schulter schmerzte bei jedem Schritt fürchterlich, doch das ignorierte ich, denn ich floh vor dem Schmerz in meinem Herzen und der Sorge in meinem Kopf. Aber selbst als ich diese Gefühle erschöpft hinter mir gelassen und die Gespenster, die mich verfolgten, durch einen zweiten Schub Verdrängung und Entschlossenheit abgehängt hatte, rannte ich weiter.
Irgendwann blieb ich stehen, vornübergebeugt und keuchend, um wieder zu Luft zu kommen. Neben mir erstreckte sich dunkel die Pont des Artes über die Seine. Ohne nachzudenken, bewegte ich mich auf sie zu, sprang die paar Stufen hinauf und betrat die Holzplanken. Als ich in der Mitte der Brücke angelangt war, lehnte ich mich gegen das Geländer und starrte hinunter in das dunkle, wirbelnde Wasser. Eine Winterwindböe blies mir das Haar ins Gesicht. Ich strich es mir hinter die Ohren und atmete tief den Geruch des Flusses ein, der entfernt nach Meer roch. Und dann ließ ich meiner Erinnerung freien Lauf.
Hier hatten Vincent und ich uns das erste Mal geküsst. Obwohl dieser Kuss nicht mal fünf Monate zurücklag, fühlte es sich an wie ein ganzes Leben. Damals hatte ich ihm gesagt, dass ich mir nicht sicher war, ob ich ihn wiedersehen wollte. Dass ich ihm nichts versprechen konnte und nie weiter als bis zum nächsten Date denken würde. Daraufhin hatte er mich hierhergebracht und trotzdem geküsst. Jetzt, wo ich ihn besser kannte, war ich mir sicher, dass er das geplant hatte. Ihm musste klar gewesen sein, wenn es ihm gelang, mein Herz zu erobern, würde sich auch meine Vernunft ergeben. Ein wehmütiges Lächeln schlich sich auf meine Lippen, ohne dass ich es verhindern konnte.
Ich fragte mich, ob ich ihn je wiedersehen würde, und kämpfte trotzig die Tränen zurück, die mir erneut in die Augen schießen wollten. So etwas durfte ich nicht mal denken. Denn wenn ich solche Gedanken zuließ, hieß das, dass Violette ihn bereits verbrannt hatte und er fort war. Für immer. An das Wasser gerichtet, das sich unter mir kräuselte, sagte ich: »Ich weigere mich, das zu glauben.«
»Was zu glauben?«, ertönte eine Stimme hinter mir.
Ich fuhr herum und sah einen Mann in einem Pelzmantel, der ein paar Meter entfernt von mir stand. Obwohl ich sofort wusste, wer – und was – er war, hatte ich keine Angst. Stattdessen loderte endloser Hass in mir auf. »Du!«, zischte ich und stürzte mit erhobenen Fäusten und wirbelnden Armen auf ihn zu. Er ließ fallen, was immer er in der Hand hielt, und fasste mit einer schnellen Bewegung meine Arme, bevor meine Fäuste ihn treffen konnten.
»Na, na, empfängt man so einen Boten?«, fragte Nicolas und deutete mit den Augen auf das, was nun am Boden verstreut lag.
Ich folgte seinem Blick und als ich sah, was dort lag, zerbrach etwas in mir. »Nein«, flüsterte ich. Er ließ mich los und ich fiel auf die Knie, um die weißen Lilien aufzusammeln, die sich zu unseren
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