Der Nachbar
Die Krawalle legten sich, als die Nachricht vom Blutbad in der Siedlung bekannt wurde. Einzelheiten blieben unklar. Niemand konnte sagen, wie viele Menschen umgekommen waren und wie sie ihr Leben verloren hatten, aber es war von Kastration, Lynchjustiz und Angriffen mit einer Machete die Rede. Die Straßen leerten sich schnell. Alle fühlten sich schuldig, auch wenn keiner es offen eingestand, und niemand wollte sich wegen Mordes verantworten müssen.
Mit den Jugendlichen, die oben auf den Barrikaden die Polizei mit Benzinbomben in Schach gehalten hatten, verhielt es sich ähnlich. Sie behaupteten später nicht ganz zu Unrecht, sie hätten nicht gewusst, was vor sich ging; als jedoch Berichte von dem blutigen Gemetzel durchsickerten, suchten auch sie das Weite. Sich in ehrenhaftem Kampf mit dem Feind zu schlagen, war eine Sache; sich der Beschuldigung auszusetzen, an dem rasenden Irrsinn in der Humbert Street beteiligt gewesen zu sein, ihm gar noch Vorschub geleistet zu haben, etwas ganz anderes.
Die Schlagzeilen am folgendem Morgen – dem 29. Juli – waren grausig.
Alkoholisierte Menge im Blutrausch – Pädophiler brutal abgeschlachtet – 3 Tote und 189 Verletzte nach fünfstündigem Massaker...
Die Welt schauderte angewidert. Die Leitartikler stellten die üblichen Verdächtigen an den Pranger. Regierung, Polizei, Sozialdienste, Pädagogen. Die Jugendberatungsstellen im ganzen Land waren demoralisiert.
Aber von den zweitausend Menschen, die sich bei den Unruhen um Plätze mit guter Sicht auf die Orgie von Tod und Gewalt geschlagen hatten, wollte später kein Einziger dabei gewesen sein.
Von der Leitung der Sozialen Dienste
Dienstag, 10. Juli 2001
Amtliche Mitteilung an die Mitarbeiter des
Gesundheits- und Sozialdienstes
Absolut Vertraulich – nicht zur öffentlichen Bekanntmachung
Neuzuzug: Milosz Zelowksi, 23 Humbert Street, Bassindale – bisherige Anschrift: Callum Road, Portisfield.
Grund des Umzugs: Der Klient wurde an seinem früheren Wohnort, der Wohnanlage Portisfield, nach der Veröffentlichung seines Fotos in der Lokalzeitung von Anwohnern bedroht.
Zur Person: Amtsbekannter Pädophiler. Verurteilt wegen sexueller Nötigung – drei Fälle über einen Zeitraum von 15 Jahren. Entlassen im Mai 2001.
Gefahr für die Allgemeinheit: Minimal. Seine Vergehen legen lediglich aufmerksame Beobachtung nahe.
Gefahr für den Täter: Schwer wiegend
Die Polizei warnt, dass Zelowski Opfer von Selbstschutzgruppen werden könnte, sollten seine Identität und seine Vorstrafe bekannt werden.
1
19. – 20. Juli 2001
Beim Nightingale Health Centre las höchstens eine Hand voll Leute die amtliche Mitteilung über den Zuzug eines Pädophilen in die Bassindale Siedlung, bevor das Blatt in der Verwaltung unter Papierbergen verschwand und schließlich von einer Schreibkraft abgelegt wurde, die glaubte, es hätte ordnungsgemäß die Runde gemacht. Für die Mitarbeiter, die die Meldung zu Gesicht bekamen, war sie ein alltägliches Dokument, das den Namen eines neuen Patienten und einige Angaben zu seiner Person enthielt. Für alle Übrigen war es ohne Belang, da es auf ihre Einstellung gegenüber dem Patienten keinen Einfluss haben würde – oder
sollte
.
Eine der amtlichen Betreuerinnen des Gesundheitsdienstes wollte die Angelegenheit bei einer Personalbesprechung zur Diskussion stellen, wurde aber von ihrer Gruppenleiterin, die für die Aufstellung der Tagesordnung zuständig war, abgewiesen. Möglich, dass die seit langem schwelende Feindschaft zwischen den beiden Frauen – von denen eine die andere für inkompetent hielt – die Gruppenleiterin bei ihrer Entscheidung beeinflusste. Es sei Sommer, meinte sie, und da wolle jeder gern zu einer vernünftigen Zeit zu Hause sein. Außerdem könnten sie an der Sache ohnehin nichts ändern, selbst wenn die Ärzte sich darüber einig seien, dass es unverantwortlich und brandgefährlich sei, einen Pädophilen in einer Wohnsiedlung voller Kinder unterzubringen. Sein Umzug nach Bassindale sei von der Polizei veranlasst worden.
Dieselbe Betreuerin wurde in dem offenkundigen Bemühen, die Entscheidung ihrer Gruppenleiterin zu kippen, bei Dr. Sophie Morrison vorstellig. Zu diesem Zeitpunkt allerdings ging es ihr bereits weniger um die bedenkliche Anwesenheit des Pädophilen als um den persönlichen Triumph, und Sophie Morrison, naiv und unerfahren im amtlichen Intrigenspiel, war leicht unter Druck zu setzen. So jedenfalls schätzte Fay Baldwin die umgängliche junge Frau
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