Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
lediglich achtlos mit den Schultern.
»Er hat hier gewohnt, vor vier Jahren«, sagte sie, reichte ihm den Brief ihres ehemaligen Nachbarn Mr. Hutchinson und fragte: »Sind Sie Mr. Egerton?«
»Der bin ich«, antwortete der Wirt, ein hagerer Mann mit abstehenden Ohren und dichtem Backenbart. Er las den Brief, schaute überrascht zu Celia, dann verfinsterte sich sein Blick, und er gab ihr das Papier zurück. »Wer bist du?«, wollte er wissen. »Und was willst du von ihm?«
»Mein Name ist Celia Brooks. Ich bin seine Tochter.«
»Ned Brooks hatte keine Tochter. Er hatte nicht mal ’ne Frau.«
»Hatte?« , rief Celia erschrocken. »Soll das heißen, dass er …«
»Dass er nicht mehr hier ist«, antwortete Mr. Egerton mürrisch und wischte sich die Hände an einem fleckigen Tuch ab. »Schon lange nicht mehr. Hab ihn seit Jahren nicht gesehen. Und vermissen tu ich ihn auch nicht.«
»Können Sie mir sagen, wo ich ihn finde?«
»Was willst du von ihm?«, wiederholte der Wirt seine Frage.
»Ich bin seine Tochter«, wiederholte auch Celia ihre Worte.
»Sieht Ned das auch so?«
Celia schaute Mr. Egerton verwirrt an. Dann begriff sie, was der Wirt mit seinen Worten gemeint hatte, und schüttelte den Kopf. »Er hat uns vor acht Jahren verlassen.«
»Acht Jahre sind eine lange Zeit«, sagte Mr. Egerton nickend. »Und seitdem hast du nichts von ihm gehört, stimmt’s? Du weißt gar nichts von Ned Brooks.«
»Nur das, was in dem Brief steht. Mutter hat nie von ihm gesprochen.«
»Kann ich ihr nicht verdenken.« Der Wirt schnaufte laut und rieb sich das unrasierte Kinn. »So ist das also«, murmelte er leise und räusperte sich.
»So ist was?«
»Nichts.« Wieder ein Räuspern, dann sagte der Wirt: »Ned Brooks war schon lange nicht mehr in Southampton. Jedenfalls soweit ich weiß.«
»Und wissen Sie vielleicht, wohin er gegangen ist?«
»Vergiss deinen Vater!« Er deutete auf den Brief in Celias Hand. »Du hast doch gelesen, was dieser Mr. Sowieso geschrieben hat. Ned wollte offensichtlich mit euch nichts mehr zu tun haben. Und wenn du mich fragst, kannst du froh drüber sein. Ned Brooks hat nichts getaugt. Da kannst du fragen, wen du willst. Das sehen alle in Southampton so.«
»Ned Brooks?«, mischte sich ein alter Seebär ein, der an den Tresen gekommen war, um seinen Bierhumpen nachfüllen zu lassen. »Ein verdammter Judas Ischariot, wenn du mich fragst! Ein feiger Verräter.«
»Halt’s Maul, Jim!«, schnauzte der Wirt und hielt den Humpen unter den Zapfhahn, ohne den Hebel zu betätigen. »Sonst kriegst du nichts mehr.«
»Meine Meinung, Syd«, brummte der Alte beleidigt und fuhr sich über das wettergegerbte Gesicht. »Nur meine Meinung.«
»Die will hier keiner hören«, antwortete Mr. Egerton, füllte den Bierkrug und hielt ihn dem Seemann vor die Nase. »Und jetzt hock dich in die Ecke.«
»Ay, Sir!«, knurrte der Alte, griff nach dem Bier und tat, wie ihm befohlen.
Celia hatte das Wortgefecht der beiden Männer verstört verfolgt. Weder begriff sie, warum der Seemann ihren Vater einen Judas und Verräter genannt hatte, noch verstand sie, was der Wirt mit seinen Worten gemeint hatte: »Das sehen alle in Southampton so.« Gerade so, als würde die ganze Stadt ihren Vater kennen. Was Celia jedoch begriff, war die Tatsache, dass sie die lange Reise von Brightlingsea bis an die Südküste umsonst unternommen hatte. Ihr Vater war nicht mehr in Southampton, vielleicht war er auf hoher See, womöglich wohnte er mittlerweile in irgendeinem anderen Teil des Landes oder war längst gestorben. Celia wusste nur, dass der Brief von Mr. Hutchinson sie in eine Sackgasse geführt hatte. Und dass sie unverrichteter Dinge wieder gehen müsste.
»Wo willst du jetzt hin?«, fragte der Wirt, als hätte er Celias Gedanken gelesen. »Es ist schon spät. So ein hübsches Mädchen sollte um diese Zeit nicht mehr allein unterwegs sein.«
Celia zuckte mit den Schultern.
»Kannst du kochen?«
Sie verstand nicht.
»Die Missis ist bei ihrer Familie und kommt erst morgen Mittag aus Lyndhurst zurück«, sagte Mr. Egerton und zupfte sich am Backenbart. »Und das Dienstmädchen hat letzte Woche ihre Stellung aufgegeben.«
»Aha«, sagte Celia. Sie verstand noch immer nicht.
»Wenn du mir morgen beim Frühstück hilfst und dich an den Herd stellst, kannst du heute Nacht in der Kammer unterm Dach schlafen.« Der Wirt lächelte schief und fügte augenzwinkernd hinzu: »Kostet dich nichts.«
»Danke,
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