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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Kuipers
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sagte: »Robin und ich sind seit vielen Jahren Freunde.« Sie sah zu ihm auf.
    »Was macht er hier?«, fragte ich.
    »Er ist ein Freund, Sophie.«
    Ich wollte sagen: Und er ist über Nacht hier gewesen?
    Als hätte sie meine Gedanken lesen können, sagte sie: »Er kam zum Mittagessen vorbei.«
    Ich antwortete nicht, sondern machte kehrt, um nach oben in mein Zimmer zu gehen.
    »Komm doch zurück«, rief Mum mir nach. »Leiste uns beim Essen Gesellschaft, ja?«
    Ich ignorierte sie und ging in mein Zimmer, legte mich auf mein Bett. Irgendwie erwartete ich, dass irgendetwas passierte, aber nichts geschah.

    Schließlich ging ich nach unten. Sie schwiegen beide, als ich mich zu ihnen setzte. Mum wollte etwas sagen, das merkte ich, doch Robin sah sie mit diesem Wart-ab -Blick an. Mum seufzte und löffelte Pasta auf meinen Teller. Sie redeten über irgendeinen Professor, den sie an der Uni gekannt hatten – anscheinend haben sie zusammen studiert. Es kam mir so vor, als liefe die Unterhaltung ohne mich besser, also schwieg ich und spielte mit meinen Spaghetti. Ich bemerkte einen gelben Fleck vom Olivenöl auf dem Tischtuch. Seit wann hatte Mum wieder angefangen zu kochen? Plötzlich wurde mir klar, dass sie schon seit einer Weile für mich kochte – ich hatte nur nie mit ihr gegessen.
    Dann sagte Mum: »Robin hat sich darauf gefreut, dich kennenzulernen«, und fügte völlig zusammenhanglos hinzu: »Er hat schon die ganze Welt bereist.«
    »Das stimmt«, sagte Robin.
    »Du kannst ihn ruhig danach fragen«, sagte Mum und sah mich auffordernd an.
    Robin bremste sie: »Dräng sie nicht.«
    »Sie kann tun, was sie will«, sagte ich.
    »Sophie, bitte.«
    »Was? Was erwartest du denn? Du tust so, als wäre alles BESTENS.«
    Mums Gesicht wurde rot und fleckig. Sie umfasste den Tisch und ihre Knöchel wurden ganz weiß.
    »Ich bin nicht hungrig«, sagte ich und stand auf.
    Sie bat: »Bitte, Sophie.«
    Ich sah Mum an. »Was soll ich denn deiner Meinung nach zum Gespräch beitragen?«
    »Bitte«, flüsterte sie.
    Ich merkte, dass Robin mich anstarrte. Ich wusste, dass er nur wollte, dass ich mich wieder hinsetzte, und dafür hasste ich ihn. Und ich hasste mich selbst dafür, dass ich so eine gemeine Zicke war, aber ich konnte mich einfach nicht beruhigen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, also sagte ich: »Ich bin fertig mit essen. Ich gehe in mein Zimmer.«
    Mum rief mir nach, ich solle zurückkommen und reden. Ich hörte Robin auf sie einreden: »Lass sie. Gib ihr Zeit.«
    »Sie hasst mich«, sagte Mum.
    Ich hätte sie am liebsten beide umgebracht.

    Ich schlief den ganzen Nachmittag. Als ich aufwachte, war Robin fort. Ich wünschte dann, er wäre nicht gegangen, denn irgendwie war es mit ihm zwischen uns anders. Ohne ihn waren wir genau da, wo wir immer waren.
    Ich wollte Mum sagen, dass es mir leidtat. Ich wollte es wieder gutmachen. Aber sie ist jetzt in meiner Gegenwart so nervös und aufgebracht, dass ich nicht weiß, wie ich damit klarkommen soll.

Mittwoch, 24. Mai
    Schule: furchtbar. Zu Hause: noch schlimmer. Rosa-Leigh rief an und fragte, ob ich morgen zum Abendessen kommen wollte. Ich werde auf jeden Fall hingehen. Mum behandelt mich, als wäre ich aus Glas und zerspränge in tausend Stücke, wenn sie mich fallen ließe. Ich möchte eigentlich nur, dass sie zu mir kommt und mit mir spricht und macht, dass alles wieder gut ist. Aber jedes Mal, wenn sie es in letzter Zeit versucht hat, habe ich sie angeschrien und sie ausgeschlossen. Vielleicht habe ich alles für immer ruiniert, besonders nach dem, wie ich mich am Wochenende verhalten habe.

Donnerstag, 25. Mai
    Das Abendessen bei Rosa-Leigh war toll. Es ist so viel einfacher dort als hier mit Mum.

Freitag, 26. Mai
    Ich frage mich, ob Emily, wenn sie nicht bei dem Bombenanschlag umgekommen wäre, vielleicht bald danach sowieso gestorben wäre. Wie in diesem Film, an dessen Namen ich mich nicht erinnern kann, wo Leute bei einem Achterbahn-Unglück ums Leben kommen sollten, das aber doch nicht passierte. Danach holte der Tod sie alle, bis auch der Letzte auf ganz schreckliche Weise umgekommen war.
    Ich stelle mir einen großen Raum vor mit vielen Stiften, die niederschreiben, wann jeder einzelne von uns sterben soll. Schicksal. Steht in den Sternen. Wenn unser Zeitpunkt gekommen ist, ist alles vorbei.
    Ich frage mich, ob es wirklich etwas nach dem Leben gibt, wie Gott oder Allah. Oder ist da nichts? Ist Emily jetzt wirklich nichts? Wenn ich mich an sie

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