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Vor meinen Augen

Vor meinen Augen

Titel: Vor meinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Kuipers
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Thema. »Kalila kommt auch noch her. Sie ist echt die Coolste, die ich hier kennengelernt habe.« Rosa-Leigh lächelte. »Außer dir vielleicht.«
    Und dann kam Kalila. Sie trug wie immer ihr Kopftuch, und sie sah gut aus. Es ist komisch: Ich habe mich nie richtig mit ihr unterhalten, und seit letztem Sommer fühle ich mich ihr gegenüber ziemlich unwohl. Ich gebe ihr keine Schuld – das wäre ja auch dumm. Ich gebe den Leuten die Schuld, die es taten, den Leuten, die so hasserfüllt sind. Aber ich habe Angst, dass sie vielleicht denkt, ich würde ihr die Schuld geben, weil sie eine Muslima ist – selbst wenn das absurd ist. Ich weiß, andere Leute haben ihr das Leben schwergemacht, besonders im letzten Halbjahr, und besonders die blöde Megan. So etwas habe ich nicht getan, aber ich bin ihr einfach aus dem Weg gegangen.
    Sie setzte sich und sagte: »Hi.«
    Ich hatte wieder dieses Gefühl, das ich immer bekomme, wenn ich in ihrer Nähe bin, dass ich nicht weiß, was ich sagen soll. Ich will aber auch nicht, dass sie sich unwohl fühlt. Ich grüßte auch mit »Hi« und fand dann keine weiteren Worte mehr. Ich dachte an den Tunnel, an das Zerspringen des Fensterglases, und mein Mund wurde trocken. Langsam wurde mir übel.
    Sie sagte: »Geht’s dir nicht gut?«
    Ich zuckte mit den Schultern und holte ein paarmal tief Luft. »Ich weiß nicht. Nein, ja, schon okay«, antwortete ich. »Tut mir leid, Kalila. Ich hab nur, ähm …« Ich blickte hilfesuchend zu Rosa-Leigh.
    Rosa-Leigh sagte: »Sie flippt nur manchmal aus.«
    Kalila nickte. Und dann sprach sie es geradewegs an und sagte: »Es muss sehr schwer für dich gewesen sein. Die Arbeitskollegin meiner Mutter war an dem Tag auch dort.«
    »Wirklich?«, fragte ich. »Geht es ihr gut?«
    Kalila zuckte mit den Schultern. »Einigermaßen. Sie hat es gerade noch geschafft. Die ganze Sache macht mich krank«, sagte sie. »So viel Gewalt, das ist so dumm und so grausam. Es muss furchtbar gewesen sein.« Sie streckte die Hand aus und legte sie sanft auf meine. »Es ist nicht zu vergleichen, aber für uns war es auch schlimm.« Sie zeigte auf sich selbst. »Einmal kam ein Typ auf der Straße auf mich zu und spuckte mich an. Er nannte mich Terroristin.«
    »Wie gemein«, sagte ich und sah in ihre sanften dunklen Augen.
    »Ich verstehe, dass die Leute wütend sind, aber sie sollten auf die Schuldigen wütend sein – auf die Terroristen, nicht auf jemand wie mich. Ich wünschte nur, die Leute wären nicht so beschränkt.«
    Ich nickte. »Es ist alles so kaputt.«
    Rosa-Leigh sagte: »Ich will ja nicht das Thema wechseln … Na ja, eigentlich will ich das doch. Ich dachte, dass du«, sie sah mich an, »… vielleicht heute Abend vortragen möchtest.«
    »Vortragen?«
    »Da oben. Eines deiner Gedichte.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Glaube nicht«, sagte ich lauter, als ich beabsichtigt hatte.
    Rosa-Leigh stieß einen übertriebenen Seufzer aus und sagte: »Na ja, war jedenfalls einen Versuch wert.«
    Da fragte mich Kalila nach den Gedichten, die ich geschrieben habe, und ich wurde ein wenig verlegen. Sie erzählte uns, dass sie gerne singt. Einer der Gäste fing schließlich an, etwas zu performen.
    Irgendwie wünschte ich mir da fast, ich hätte meinen Namen auch auf die Liste der Vortragenden gesetzt.

    Ich bin zu Hause bei Rosa-Leigh. Ich rief Mum an und sagte ihr, dass ich über Nacht bleibe, und vielleicht auch die Nacht von Samstag auf Sonntag, wenn sie nichts dagegen hätte. Sie seufzte und sagte: »Okay.«

Sonntag, 21. Mai
    Als ich nach Hause kam, kam dieser MANN aus der Küche. Ich hatte fast einen Herzanfall und wollte schon losschreien, von wegen Einbrecher und so, als Mum laut rief: »Was möchtest du denn essen?« Am Tonfall hörte ich, dass sie nicht mich meinte.
    Der Mann war schlank, hatte eine Glatze, eine Brille und ein rundes Gesicht. Ich meinte, ihn zu kennen, aber ich wusste nicht, woher. Er streckte seine Hand aus und sagte, sein Name sei Robin.
    Ich schüttelte ihm die Hand, die meine völlig umfasste.
    Er sagte: »Ich freue mich sehr, dich zu sehen. Wir haben uns schon mal kennengelernt.«
    »Nein, haben wir nicht«, sagte ich. Ich ließ seine Hand ganz schnell fallen, als sei sie plötzlich zu heiß geworden.
    »Damals warst du noch klein. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr.«
    Mum kam aus der Küche und zuckte bei meinem Anblick zusammen. Sie fasste sich jedoch gleich wieder und versuchte zu lächeln, als sei alles völlig normal. Sie

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