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Vorsatz und Begierde (German Edition)

Vorsatz und Begierde (German Edition)

Titel: Vorsatz und Begierde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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habe ich sie wirklich nicht gekannt. Das versuche ich Ihnen ja gerade zu sagen. Ich weiß es nicht! Und jetzt, wo Timmy auch noch fort ist, ist es mir auch egal. Ich bin so furchtbar durcheinander, so wütend über das, was sie mir angetan hat, über das, was sie war, und so traurig über ihren Tod. Ich wußte nicht, daß man wütend und traurig zugleich sein kann. Ich müßte um sie trauern, aber alles, was ich empfinde, ist diese fürchterliche Wut.«
    »O doch«, sagte Dalgliesh. »Man kann wütend und traurig zugleich sein. Das ist die häufigste Reaktion auf einen Verlust.«
    Auf einmal brach Pascoe in Tränen aus. Die leere Bierdose klapperte auf dem Tisch, als er sich mit bebenden Schultern tiefer darüberbeugte. Frauen, dachte Dalgliesh, werden mit der Trauer besser fertig als wir. Er hatte es so oft erlebt, wie Polizistinnen unwillkürlich die trauernde Mutter, das einsame Kind in die Arme nahmen. Manche Männer konnten das natürlich auch. Rikkards, zum Beispiel – früher einmal. Dalgliesh selbst konnte besser mit Worten umgehen, aber Worte waren schließlich sein Handwerkszeug. Was ihm schwerfiel, war das, was sich bei den wahrhaft Großherzigen so spontan entwickelte: die Bereitschaft, zu berühren und sich berühren zu lassen. Ich bin hier unter falschem Vorwand, dachte er; wäre ich das nicht, könnte auch ich mich vielleicht der Lage gewachsen fühlen.
    Laut sagte er: »Ich glaube, der Wind hat ein wenig nachgelassen. Wollen wir mit dem Verbrennen weitermachen und den Mist da unten am Strand beseitigen?«
    Es dauerte noch über eine Stunde, bis Dalgliesh sich auf den Rückweg zur Mühle machen konnte. Als er sich an der Caravantür von Pascoe verabschiedete, kam ein blauer Fiesta mit einem jungen Mann am Steuer über die Wiese gefahren. »Jonathan Reeves«, erklärte Pascoe. »Er war mit Caroline Amphlett verlobt oder glaubte es jedenfalls. Sie hat ihn genauso reingelegt wie Amy mich. Er ist ein paarmal hergekommen, um sich mit mir zu unterhalten. Wir wollen vielleicht auf ein Billardspiel in den Local Hero fahren.«
    Keine angenehme Vorstellung, dachte Dalgliesh, daß diese beiden durch einen gemeinsamen Verlust verbundenen Männer sich mit Bier und Billard über die Treulosigkeit ihrer Frauen hinwegtrösteten. Aber Pascoe schien ihm Reeves vorstellen zu wollen, und der feste Händedruck des Mannes, als er ihm formell kondolierte, erstaunte ihn.
    »Ich kann’s immer noch nicht fassen«, sagte Jonathan Reeves.
    »Aber das sagen die Leute wohl immer, wenn jemand unerwartet gestorben ist. Und ich habe immer das Gefühl, daß es meine Schuld war. Ich hätte sie zurückhalten müssen.«
    »Sie waren beide erwachsene Menschen«, erwiderte Dalgliesh. »Vermutlich wußten sie, was sie taten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie die beiden hätten zurückhalten können, ohne sie mit körperlicher Gewalt vom Boot zu ziehen, und das hätten Sie bestimmt nicht geschafft.«
    Reeves wiederholte trotzig: »Ich hätte sie zurückhalten müssen.« Und er ergänzte: »Ich habe immer wieder denselben Traum, nein, Alptraum. Sie steht mit dem Kind auf dem Arm an meinem Bett und sagt zu mir: ›Es ist alles deine Schuld. Alles deine Schuld.‹«
    »Caroline kommt mit Timmy?« fragte Pascoe ihn erstaunt. Reeves sah ihn an, als wundere er sich, wie man so dumm sein könne. »Nicht Caroline«, erklärte er. »Amy kommt. Amy, die ich nie kennengelernt habe, steht da, während ihr das Wasser aus den Haaren strömt, hält das Kind auf dem Arm und sagt mir, daß das alles meine Schuld ist.«

48
    Etwas mehr als eine Stunde später hatte Dalgliesh die Landzunge verlassen und fuhr auf der A 1151 westwärts. Nach zwanzig Minuten bog er nach Süden auf eine schmale Landstraße ein. Inzwischen war es dunkel geworden, und die dahinjagenden Wolken, vom Wind zerrissen, zogen wie zerfetzte Laken vor dem Mond und den hohen Sternen einher. Er fuhr schnell und sicher, achtete kaum auf das Stoßen und Heulen des Windes. Er war diese Strecke erst einmal gefahren, an diesem Morgen, brauchte aber keine Landkarte: Er wußte, wohin er fuhr. Zu beiden Seiten der niedrigen Hecken erstreckten sich die schwarzen, unbeackerten Felder. Gelegentlich streiften die Scheinwerfer des Wagens einen knorrigen, im Wind schwankenden Baum mit ihrem silbrigem Licht, beleuchteten das leere Gesicht eines einsamen Farmhauses, ließen die Augen eines Nachttieres aufglühen, bevor es sich flink in Sicherheit brachte. Die Fahrt war nicht lang, nicht einmal fünfzig

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