Vorsatz und Begierde (German Edition)
Minuten, und doch fühlte Dalgliesh sich, während er angestrengt geradeaus blickte und automatisch den Schalthebel bediente, sekundenlang so verunsichert, als führe er seit endlosen Stunden durch die öde Finsternis dieser flachen, spröden Landschaft.
Die frühviktorianische Backsteinvilla lag am Rande eines Dorfes. Da das Tor zu der kiesbestreuten Einfahrt offenstand, fuhr er langsam zwischen den vom Wind bewegten Lorbeerbüschen und den hohen, knarrenden Ästen der Buchen dahin, bis er den Jaguar zwischen drei weiteren, diskret neben dem Haus abgestellten Wagen parkte. Die beiden Fensterreihen der Vorderfront waren dunkel, und die einsame Glühbirne, die das Oberlicht der Tür erhellte, wirkte auf Dalgliesh weniger wie ein willkommenes Zeichen menschlichen Lebens als wie ein Geheimsignal, ein beängstigender Hinweis auf Heimlichkeiten. Er brauchte nicht zu klingeln. Man hatte den herannahenden Wagen gehört, und so wurde die Tür, gerade als Dalgliesh sie erreichte, von demselben untersetzten Hausverwalter mit dem fröhlichen Gesicht geöffnet, der ihn bei seinem ersten Besuch am Morgen begrüßt hatte. Er trug, wie schon am Vormittag, einen blauen, so geschickt geschnittenen Overall, daß er wie eine Livree wirkte. Dalgliesh fragte sich, als was genau er hier wohl diente: als Fahrer, Leibwächter, Faktotum? Oder hatte er etwa eine noch speziellere, unheimlichere Aufgabe?
»Sie sind in der Bibliothek, Sir«, erklärte der Mann. »Ich werde gleich den Kaffee hereinbringen. Möchten Sie Sandwiches, Sir? Wir haben noch ein bißchen Rindfleisch, aber ich könnte Ihnen auch Käse bringen.«
»Vielen Dank, nur den Kaffee«, antwortete Dalgliesh.
Sie erwarteten ihn im selben kleinen Zimmer im rückwärtigen Teil des Hauses. Die Wände waren mit hellem Holz verkleidet, und es gab nur ein einziges Fenster, einen rechteckigen Erker mit verschossenen blauen Samtvorhängen. Trotz seiner Bezeichnung war die Funktion des Raumes unklar. Gewiß, die Wand gegenüber dem Fenster war mit Bücherregalen vollgestellt, doch diese enthielten nur ein halbes Dutzend ledergebundener Bände und Stöße alter Zeitschriften, die aussahen, als handle es sich um Farbbeilagen der Sonntagszeitung. Es herrschte eine seltsam verwirrende Atmosphäre, eine Mischung aus Provisorium und Komfort, wie in einer Zwischenstation, deren zeitweilige Benutzer es sich gemütlich zu machen versuchten. Vor dem kostbaren Marmorkamin waren sechs unterschiedliche Lehnsessel plaziert, die meisten mit Leder bezogen und alle mit einem kleinen Abstelltischchen daneben. Das andere Ende des Zimmers wurde von einem modernen Eßtisch aus einfachem Holz mit sechs Stühlen beherrscht. Am Morgen hatten die Reste des Frühstücks darauf gestanden, und in der Luft hatte der schwere Geruch von Eiern mit Speck gelegen. Nun aber war alles weggeräumt und durch ein Tablett mit Flaschen und Gläsern ersetzt worden. Dalgliesh, der die Vielfalt des Angebots musterte, dachte, daß sie es sich ziemlich gutgehen ließen. Das Tablett gab dem Zimmer, an dem sonst nichts Gastliches war, einen Anstrich zeitlich begrenzter Gastlichkeit. Es kam ihm eher kühl im Raum vor. Ein Schmuckfächer aus Papier im Kamin raschelte bei jedem Stöhnen des Windes im Schornstein, und die beiden elektrischen Heizöfen, die davor standen, reichten kaum aus, nicht einmal für einen so häßlich proportionierten und vollgestopften Raum. Drei Augenpaare richteten sich auf ihn, als er eintrat. Clifford Sowerby stand in derselben Pose an den Kaminsims gelehnt wie am Morgen, als Dalgliesh ihn zuletzt gesehen hatte; in seinem Abendanzug mit dem makellos weißen Hemd wirkte er noch genauso frisch wie um neun Uhr früh. Und er schien den Raum auch noch genauso zu beherrschen. Er war ein kräftiger, auf konventionelle Art attraktiver Mann mit der Selbstsicherheit und der kontrollierten Gutmütigkeit eines Schuldirektors oder erfolgreichen Bankers. Kein Kunde brauchte sich vor ihm zu fürchten, wenn er sein Büro betrat – vorausgesetzt natürlich, sein Konto wies ein erhebliches Guthaben auf. Dalgliesh, der ihm erst zum zweitenmal begegnete, empfand abermals ein instinktives und scheinbar irrationales Unbehagen. Der Mann war sowohl skrupellos als auch gefährlich, und doch hatte er sich in den Stunden, die zwischen den beiden Begegnungen lagen, nur vage an sein Gesicht und seine Stimme erinnern können.
Von Bill Harding konnte man das nicht behaupten. Er war über einen Meter achtzig groß, hatte in Anbetracht
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