Vorsatz und Begierde (German Edition)
fragst.« Trotzdem hatte sie sich vorgenommen, etwas aus ihm zu machen. Die Hälfte des kleinen Doppelhauses außerhalb von Norwich herzurichten bedeutete neun Monate harter Arbeit. Im nächsten Jahr sollte Norman bei seiner Versicherungsfirma befördert werden. Dann konnte sie ihre Stellung als Sekretärin in der medizinisch-physikalischen Abteilung im AKW von Larksoken aufgeben und sich ganz dem ersten der zwei Kinder widmen, die sie eingeplant hatte. Vierunddreißig würde sie dann sein. Daß man mit dem Kinderkriegen nicht allzu lange warten sollte, wußte inzwischen wohl jeder.
Gleich nach der Heirat hatte sie den Führerschein gemacht. Aber es war jetzt das erste Mal, daß sie nachts allein fuhr. Sie fuhr langsam, vorsichtig, die Augen geradeaus gerichtet; sie war froh, daß sie die Strecke heimwärts kannte. Sie überlegte, was Norman wohl tun würde, wenn er feststellte, daß der Wagen verschwunden war. Sicherlich rechnete er damit, daß sie im Wagen sitzen blieb, noch immer wütend, aber auch bereit, sich heimfahren zu lassen. Nun war er gänzlich von Colin abhängig, der allerdings von solchen Gefälligkeiten nicht viel hielt. Und wenn sie annahmen, daß sie Colin und Yvonne nach ihrer Ankunft noch auf einen Drink einladen würde, würden sie ihr blaues Wunder erleben. Der Gedanke, daß Norman fassungslos sein würde, weil sie weggefahren war, heiterte sie auf. Sie trat stärker aufs Gaspedal, um die drei möglichst weit hinter sich zu lassen. Sie sehnte sich nach der Geborgenheit ihres Heims. Doch plötzlich begann der Wagen zu ruckeln, und gleich darauf setzte der Motor aus. Zudem mußte sie mit einem ziemlichen Rechtsdrall dahingefahren sein, denn der Wagen stand fast quer auf der anderen Straßenseite. Für eine Motorpanne war es keine günstige Stelle; dieser Teil der Strecke wurde wenig befahren. Schüttere Bäume säumten auf beiden Seiten die Straße. Weit und breit war kein Auto zu sehen. Und dann fiel es ihr ein. Norman hatte gesagt, daß sie, wenn sie das Duke of Clarence verließen, noch unbedingt zu der Tankstelle fahren müßten, die die ganze Nacht offen war. Es war dumm von ihnen gewesen, es überhaupt soweit kommen zu lassen. Aber erst drei Tage zuvor hatten sie sich darüber gestritten, wer denn nun an der Reihe sei, zur Tankstelle zu fahren, und wer für den Sprit aufkommen müsse. Ihr Zorn und ihre ohnmächtige Wut loderten wieder auf. Sie saß da, hämmerte mit den Fäusten aufs Steuerrad und versuchte störrisch den Motor zu starten, aber vergeblich. Ihr Zorn wich allmählich dem ersten Anflug von Angst. Die Straße war leer. Aber selbst wenn ein Auto auf sie zukäme und anhielte, wußte sie doch nicht, ob nicht der Fahrer ein Kidnapper war, ein Frauenschänder oder gar der Whistler. War nicht erst in diesem Jahr jemand auf der A 3 auf gräßliche Weise ermordet worden? Heutzutage konnte man doch niemand mehr trauen. Andererseits konnte sie den Wagen nicht so, schräg auf der anderen Straßenseite, stehen lassen. Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie an einem Haus vorübergekommen war, an einer Notrufsäule, einer öffentlichen Telephonzelle. Aber allem Anschein nach war sie in den letzten zehn Minuten auf einer Strecke gefahren, wo es all das nicht gab. Selbst wenn sie die zweifelhafte Geborgenheit des Wagens verließ, wußte sie nicht, in welcher Richtung sie Hilfe finden könnte. Panik überkam sie wie ein jäh einsetzender Brechreiz. Dennoch mußte sie dem Drang, aus dem Wagen zu flüchten, um sich zwischen den Bäumen zu verstecken, unbedingt widerstehen. Was würde ihr das schon helfen? Vielleicht lauerte er gerade dort.
Doch dann hörte sie unverhofft Schritte. Als sie sich umblickte, sah sie eine Frau auf sich zukommen. Sie trug Hosen, einen Trenchcoat und auf dem dichten, blonden Haar ein engsitzendes Barett. Neben ihr trottete an der Leine ein kleiner, glatthaariger Hund. Plötzlich war Christines Angst wie weggeblasen. Da kam jemand, der ihr helfen konnte, den Wagen auf die richtige Fahrbahn zu schieben, der wußte, in welcher Richtung das nächste Haus lag, der sie auf dem Weg dorthin vielleicht begleiten würde. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit, die Wagentür ins Schloß fallen zu lassen, sondern lief lächelnd, mit einem freudigen Aufschrei, ihrem Tod entgegen.
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Das Dinner – auch der Wein zum Hauptgang, ein 78er Château Potensac – war exzellent gewesen. Obwohl Dalgliesh von Alice Mairs Renommee als Kochbuchautorin wußte, hatte er noch keines ihrer
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