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Vorsatz und Begierde (German Edition)

Vorsatz und Begierde (German Edition)

Titel: Vorsatz und Begierde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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davon ausgehen, daß er sein Unwesen in seiner näheren Umgebung treibt. Es sieht allerdings ganz danach aus. Offensichtlich kennt er die Gegend gut. Und er scheint sich stets an die gleiche Vorgehensweise zu halten. Er sucht sich eine Straßenkreuzung aus, parkt seinen Wagen dicht bei der Straße, geht auf die andere Seite und lauert. Dann zerrt er das Opfer in ein Gebüsch oder unter einen Baum, bringt es um, rennt zum Wagen auf der anderen Seite und verschwindet. Bei den letzten drei Morden scheint ihm der pure Zufall ein geeignetes Opfer in die Arme getrieben zu haben.«
    Dalgliesh hatte das Gefühl, er müsse jetzt auch etwas zu den Mutmaßungen beitragen. »Wenn er sich nicht auf ein bestimmtes Opfer festlegt und ihm auflauert, was er in den letzten drei Fällen anscheinend getan hat, muß er eine lange Wartezeit in Kauf nehmen. Das könnte bedeuten, daß er nach Anbruch der Dunkelheit beruflich unterwegs ist, ein Nachtschichtarbeiter vielleicht, ein Maulwurffänger, ein Förster, ein Wildhüter oder etwas Ähnliches. Er nützt jede Gelegenheit, die sich ihm zu einem raschen Mord bietet.«
    »So sehe ich es auch«, erwiderte Rikkards. »Bislang sind’s vier Morde. Bei dreien scheint der Zufall eine Rolle gespielt zu haben. Aber vielleicht betreibt er das schon seit drei Jahren oder noch länger. Vielleicht verschafft ihm das erst den Kick. ›Heute nacht könnte es klappen, heute nacht habe ich vielleicht Glück.‹ Und Glück hat er, verdammt noch mal! Zwei Opfer in sechs Wochen.«
    »Und was ist mit seinem besonderen Kennzeichen, dem Pfeifen?«
    »Drei Leute haben es gehört, als sie gleich nach dem Mord in Easthaven am Tatort eintrafen. Ein Zeuge hatte nur ein Pfeifen vernommen. Der zweite sagte, es hätte ein Kirchenlied sein können. Und die Frau, die gleichfalls aussagte – sie geht öfters zur Kirche –, meinte, es sei der Choral ›Der Tag ist nun vergangen‹ gewesen. Wir haben das für uns behalten. Möglicherweise nützt es uns, wenn die üblichen Spinner anrufen und behaupten, sie seien der Whistler. Es scheint jedenfalls festzustehen, daß unser Mann nach einem Mord irgendeine Melodie pfeift.«
    »›Der Tag ist nun vergangen‹«, zitierte Dalgliesh. »›Die Nacht, die kommet bald./Schon schwärzen dunkle Schatten/Himmel, Meer und Wald.‹ Es ist ein Lied, das man in der Sonntagsschule in der Kirche singt. Kein Schlager, den man sich in einer Radiowunschsendung bestellen kann.«
    Er kannte das Lied von seiner Kindheit her. Diese schwermütige, wenig bekannte Weise hatte er als Zehnjähriger auf dem Klavier im Wohnzimmer zu spielen versucht. Sonderbar, daß sie heute noch jemand kannte. Miss Barnett hatte sie gern angestimmt, an den langen düsteren Nachmittagen im Winter, gegen Ende der Sonntagsschule, wenn es draußen schon dunkel wurde und der kleine Adam Dalgliesh Angst bekam, weil ihm die letzten zwanzig Meter seines Heimwegs, da, wo die Biegung zum Pfarrhaus begann und das Gebüsch ganz dicht war, unheimlich waren. Die Nacht war anders als der helle Tag. Sie roch anders, sie klang anders. Ganz gewöhnliche Dinge sahen plötzlich bedrohlich aus. Eine gespenstische, tückische Macht schien die Nacht zu beherrschen. Vor dieser Strecke von knapp zwanzig Metern, wo der Kies so laut knirschte, wo man die Lichter vom Haus nicht mehr sah, schauderte ihn jede Woche. Wenn er die Gartenpforte erreicht hatte und den Fuß endlich auf den Plattenweg setzte, ging er schnell, aber nicht allzu schnell, weil das Wesen, das über die Nacht herrschte, seine Angst hätte wahrnehmen können wie ein Hund. Dabei war ihm bewußt, seine Mutter hätte nie geduldet, daß er diesen Weg allein zurücklegte, wenn sie von seinem atavistischen Schauder erfahren hätte. Aber sie hatte keine Ahnung, und er wäre lieber gestorben, bevor er es ihr eingestanden hätte. Und sein Vater? Sein Vater hätte erwartet, daß er sich tapfer verhielt, hätte ihm gesagt, daß Gott sowohl der Herr über die Finsternis als auch über das Licht sei. Er hätte ein Dutzend einschlägiger Zitate vorbringen können, wie »Die Finsternis und das Licht sind gleich vor dir, mein Gott«. Doch für einen empfindsamen Zehnjährigen waren sie nicht gleich. Auf seinem einsamen Heimweg ging ihm damals etwas von der Welt der Erwachsenen auf, daß nämlich die, die einen am meisten lieben, einem auch die größten Qualen zufügen.
    »Sie fahnden also nach einem Mann, der ortskundig ist«, sagte er zu Rikkards. »Nach einem Einzelgänger, der nachts

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