Vorstoß in die Schattenzone
darauf, von dem kleinen Süder den Spitzhut verliehen bekommen zu haben. Jetzt rückte er ihn sich in die Stirn und stieg die Treppe in den Turm hoch. Der Aufstieg war für ihn beschwerlich, aber er klagte nicht darüber, auch wenn er ihn mehrmals am Tag machen musste. Vangard war sein Meister, und er verehrte ihn sehr.
Als er nun in die Magierstube trat, herrschte ihn Vangard jedoch an: »Verhalte dich still! Ich beschwöre einen Geist.«
In der Stube brannten nur einige Kerzen, die um einen Spiegel standen, auf dessen Fläche eine Reihe von Runen gemalt waren. Kejlin erkannte die Rune der Besänftigung, aber auch die Rune des Herbeiholens, die der Abwehr und des Schutzes, ebenso wie die des Stärkens und Festigens. Die meisten der Zeichen konnte er jedoch weder entschlüsseln noch das Muster begreifen, in dem sie angeordnet waren. Es überraschte Kejlin nicht, dass im Spiegel nicht Vangard zu sehen war, sondern eine geisterhafte Erscheinung mit annähernd menschlicher Gestalt.
»Ich wollte eine Wortbrücke in meine Heimat schlagen, um mich nach Fronja, der Tochter des Kometen, zu erkundigen«, erklärte Vangard mit leiser Stimme. »Aber dann stellte sich dieser Geist in den Weg, und ich muss ihn nun verstärken, um ihn aus dem Weg schaffen zu können. Vielleicht kann er mir aber auch nützlich sein.«
»Was für ein Geist ist es?« wagte Kejlin zu fragen.
»Der Geist eines Menschen«, antwortete Vangard. »Der eines Mannes.«
»Eines Toten?« fragte Kejlin weiter und spürte, wie ihn eine Gänsehaut überlief. Er hatte sich sagen lassen, dass es gefährlich war, einen Toten anzurufen, denn Tote konnten einen leicht zu sich ins Jenseits ziehen.
»Nein, das heißt, ich glaube, dass der Mann in dieser Geisterwelt lebt«, antwortete Vangard nach kurzem Zögern und fügte hinzu: »Wenn auch nur noch schwach.« Er machte wieder eine Pause und fuhr mit veränderter Stimme fort: »Höre mich, Geist. Zeige dich mir – und nenne mir deinen Namen!«
Kejlin hielt den Atem an und starrte auf den Spiegel. Dabei entgingen ihm Vangards beschwörende Bewegungen. Aber das folgende Schauspiel schlug ihn voll in seinen Bann.
Die Erscheinung im Spiegel wurde immer deutlicher und klarer zu erkennen. Endlich war die Gestalt scharf umrissen, und Kejlin konnte einen Mann mittleren Alters erkennen. Er trug ähnliche Kleider wie die Menschen des Nordens, die nach Logghard kamen: ein Wams über einem Hemd und einen Umhang, der ihn offenbar vor Kälte schützen sollte; dazu lederne Hosen und Stiefel aus Fell. Er wirkte recht kräftig und gesund, trotzdem waren seine Bewegungen fahrig, und wenn er die Arme hob, dann schien es, als seien sie ihm zu schwer. Seine Augen starrten ins Leere.
»Cryan… ich bin Cryan, der Schmied«, kam seine Stimme wie aus weiter Ferne, obwohl er zum Greifen nahe schien. Doch Kejlin wusste, dass er nicht wirklich hier war, sondern nur durch Zauberei sichtbar gemacht worden war.
»Bist du allein in dieser Welt, Cryan?« fragte Vangard.
»Nein, aber ich werde es bald sein… Meine Frau ist nicht mehr, ebenso meine Kinder… und meine Freunde werden immer weniger. Auch ich fühle, wie mich die Kräfte verlassen… Es ist schon so lange her, dass wir hierher verschlagen wurden…«
»Wie geschah dies?« fragte Vangard.
Kejlin wartete gespannt auf die Antwort.
Doch ausgerechnet in diesem Moment gab es eine Störung. Die Tür ging auf, und Kalathee stürzte herein. Sie rief: »Luxon hat Mythor gerettet und ihn hierhergebracht!«
»Still!« rief Kejlin entsetzt und wollte die ungebetenen Besucher verscheuchen. »Der Meister macht eine Geisterbeschwörung und darf nicht gestört werden.«
»Sie können bleiben, denn das dürfte auch sie interessieren«, sagte Vangard. »Aber bleibt im Hintergrund, damit ihr den Geist nicht verscheucht.«
Kejlin nahm wieder seinen Platz ein. Der Spiegel zeigte wiederum nur einen verschwommenen Schatten, der jedoch allmählich Formen annahm, bis Cryan wieder deutlich zu sehen war.
Er sagte: »Die Schwarze Magie der Caer-Priester hat uns getroffen.«
»Dann habt ihr in der Schlacht von Dhuannin zur Wintersonnenwende gekämpft?« fragte Vangard.
»Wir haben nicht gekämpft«, antwortete Cryan mit verloren klingender Stimme. »Und das Schicksal ereilte uns schon lange vor der Wintersonnenwende. Auf einmal erschien eine schwarze Wolke über unserem Ort, aus der sich ein greller Lichtblitz entlud. Als er erlosch, da war unsere Stadt fort, und wir befanden uns in dieser
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