Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
zum Tempelhügel hinaufführende Treppe, deren Stufen aus poliertem Zedernholz im Abendlicht rötlich aufschimmerten.
Dachsschwanz fühlte sich unbehaglich, doch er wollte ihr Zeit lassen, mit den auf sie einstürmenden quälenden Erinnerungen fertig zu werden. Seit ihrem Weggang hatte sich wenig verändert. Ein paar weitere Hügel waren fertiggestellt worden, und in den tiefen Gruben, wo die Erde für die Errichtung der Hügel ausgehoben worden war, hatte man drei weitere Teiche angelegt … Dachsschwanz besaß inzwischen ein Haus auf einem kleinen Hügel auf der Ostseite des Tempels. Unwillkürlich wünschte er, durch die Lehmwand spähen und einen Blick auf sein Haus werfen zu können.
Er blickte zum Himmel. Das mächtigste der Sternenungeheuer war erwacht. Die lange Schnauze des Jungen Wolfes schnüffelte an der Spitze des Tempels, sein Schwanz streifte die um den Hals der Gehenkten Frau gelegte Schlinge.
»Der Käfig ist geschlossen, Dachsschwanz. Kannst du mich jetzt losbinden?« unterbrach Nachtschatten mit ihrer weichen schönen Stimme seine wehmütigen Betrachtungen.
»Natürlich.« Er zog einen hellen Hornsteinsplitter aus einem Beutel an seinem Gürtel und durchschnitt damit die Fesseln an ihren Händen. Nachtschatten rieb ihre schmerzenden Handgelenke. Als das Blut wieder zu zirkulieren begann, legte sie die Hände auf das bunte Bündel, das sie am Gürtel trug, und strich fast schüchtern darüber.
»Weißt du den Weg noch?« fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
»In meinen Alpträumen bin ich diesen Weg tausendmal gegangen. Ich glaube, ich werde ihn niemals in meinem Leben vergessen.«
Entschlossen schritt sie auf dem festgetretenen Pfad zum Fuß der Treppe. Dort verharrte sie kurz und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, ehe sie mit dem Aufstieg begann. Ihre Hirschlederstiefel knirschten leise auf dem vom Wind in die Zwischenräume des Holzes geblasenen Sand.
Dachsschwanz folgte ihr schweigend.
Beim Aufstieg offenbarte sich die ganze Schönheit der Stadt. Hundertundzwanzig Hügel erhoben sich aus dem flachen Schwemmland und verteilten sich wie gigantische Ameisenhaufen über das Land.
Den Raum dazwischen füllten weite Plätze und kleine, strohgedeckte Häuser. Überall schlängelten sich funkelnde Bäche, und in den glitzernden Punkten der Teiche spiegelten sich die ringsum leuchtenden Feuer.
Sie durchquerten den erste Treppenabsatz, an dessen Südwestecke ein kleiner Tempel errichtet war. Das Gebäude befand sich auf einer vorgeschobenen Plattform. Am Morgen und am Abend konnte man von der Mitte des Tempels aus über die Stadt blickend den genauen Tag im Zyklus bestimmen, denn die gesamte Stadt Cahokia war nach dem 365-Tage-Kalender angelegt worden.
Als sie die höchste Terrasse des Hügels erreichten - zweihundert Hand über dem Schwemmland - und vor dem Tor der letzten Palisade anlangten, war Nachtschatten völlig erschöpft.
Hinter der Palisade rief jemand: »Wer da?«
»Kriegsführer Dachsschwanz! Ich komme auf Befehl des Häuptlings Große Sonne. Ich bringe gute Neuigkeiten. Alle Befehle erfolgreich ausgeführt!«
Das schwere Tor, in dicke, mit Leder ummantelte Angeln eingehängt, schwang geräuschlos auf.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Dachsschwanz, wie Nachtschatten beim Betreten des letzten Innenhofes ein heftiges Zittern befiel.
Vor ihnen erhob sich der gewaltige, den Nachthimmel verdunkelnde Tempel. Zum erstenmal schlich sich Angst in Dachsschwanz' Seele ein. Was war das? Woher kam dieses vage Gefühl von Fäulnis und Verwesung?
Du fühlst dich unbehaglich. Das rührt von Nachtschattens Gegenwart und Rotluchs' Tod her. Weiter ist nichts.
Seitlich von ihnen ragte der riesige Pfahl mit dem Abbild von Vogelmann wie ein Pfeil in den Himmel. Rund um den Sockel der gewaltigen Säule lagen Opfergaben. Etliche Bahnen gefärbten Tuches waren um den Stamm gebunden, jedes mit einer Botschaft für Vogelmann.
Dachsschwanz nahm Nachtschatten bei der Hand und zerrte sie so heftig weiter, daß sie ins Stolpern geriet. An der Tür zum Tempel riß sich Nachtschatten mit einem Ruck los und blieb stehen. Ihre Knie unter dem roten Stoff ihres Kleides zitterten unübersehbar.
»Häuptling Große Sonne wartet. Schaffst du es allein, oder brauchst du Hilfe?«
Sie holte tief Luft, als könne das Einatmen des üppigen Geruchs nach würzigem Rauch, der aus dem Tempel drang, ihren Willen stählen. »Ich habe Verpflichtungen den Göttern gegenüber, Entführer. Ich schaffe es.« Sie
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