Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
VORWORT
Vor ungefähr fünftausend Jahren, während des Archaikums, waren die Eingeborenen im Waldland des amerikanischen Ostens Jäger und Sammler. Sie lebten in kleinen, verstreut liegenden Dörfern und ernährten sich hauptsächlich von Rotwild, wilden Truthähnen, Opossums, Waschbären, Schildkröten und anderen jagdbaren Tieren sowie von in der heimatlichen Natur wild wachsenden Pflanzen. Mit Beginn des Maisanbaus, ungefähr um 1500 v.Chr., änderte sich diese Lebensweise, und es entwickelte sich eine seßhafte, von der Landwirtschaft geprägte Kultur, die nicht nur höchst komplexe religiöse Zeremonien hervorbrachte und die soziale Organisation und das Wirtschaftssystem wie nie zuvor im prähistorischen Nordamerika perfektionierte, sondern auch die Politik stark beeinflußte. Diese sogenannte Mississippikultur währte ungefähr von 700 bis 1500 n. Chr. und verzeichnete die größten in Nordamerika errichteten Erdkonstruktionen, einhundert Fuß hohe Hügel mit mehr als 21 000 000
Kubikfuß aufgeschichteter Erde.
Die Kultivierung des Mais sicherte den Mississippimenschen eine hochwertige, energiereiche Nahrungsquelle und steigerte die Erträge des Landes. Vermutlich zum ersten Mal in der prähistorischen Geschichte Nordamerikas gelang es den Menschen, zuverlässig Jahr für Jahr einen Nahrungsmittelüberschuß zu produzieren. Die Einwohnerzahl der Dörfer stieg von ein paar hundert auf etwa zehn- bis zwölftausend Menschen. Die Ernährung bestand zu fast neunzig Prozent aus Mais.
Auf dieser gleichbleibenden wirtschaftlichen Grundlage konnte sich die gesellschaftliche Struktur entwickeln. Mächtige Häuptlinge stellten sich an die Spitze und vereinigten die verstreut liegenden Dörfer zu riesigen Herrschaftsbereichen, die an den obersten Häuptling, Große Sonne, Tribut - eine Steuer -entrichteten. Diese Abgaben ermöglichten die Finanzierung kommunaler Einrichtungen. Die Arbeit wurde in immer größerem Umfang von Spezialisten ausgeführt. Die Herstellung der verschiedensten Gegenstände wie Pfeilspitzen, Axtköpfe, Muschelperlen oder die vielfältigen Keramikarbeiten übernahmen eigens dafür ausgebildete, hervorragende Handwerker.
Die Mississippimenschen erschlossen weit über den Kontinent reichende Handelswege und öffneten so das Tor für einen regen Handel über Tausende von Meilen: Schneckenhäuser großer Meeresschnecken aus Florida, Obsidian aus dem Yellowstone-Gebiet in den
Rocky Mountains, Alligator- und Haifischzähne von der Golfküste, Kupfer aus Ontario, Kanada, und Wisconsin, Silber aus Michigan, Grizzlybärenzähne aus Montana, Muschelschalen aus Nord- und Südcarolina, Glimmer und Quarzkristalle aus Virginia, Chalcedon aus Nord- und Süddakota, roter Tonstein für Pfeifen aus Ohio und Pennsylvania. Höchstwahrscheinlich reichten ihre Handelswege sogar bis zu den hochentwickelten Kulturen Mexikos.
Aus den ererbten Wurzeln der archaischen Zeit entwickelten die Mississippimenschen mathematische und astronomische Kenntnisse. Wie die Poverty-Point-Fundstätte in Louisiana beweist, konnten sie mit ihrem Wissen die Städte in einer standardisierten Maßeinheit planen und sämtliche Hügel genauestens nach dem Stand der Sonne und der Sterne ausrichten. Die Hügel von Cahokia in Illinois sind so angelegt worden, daß bei Sonnenauf- und -Untergang während der Tagundnachtgleiche und der Sonnenwende die exakte Position der Sonne zu bestimmen war. Die Menschen von Toltec Mounds in Arkansas kannten bereits die astronomischen Koordinaten von Vega, Aldebaran, Rigel, Fomalhaut, Canopus und Castor. Entsprechend situierten sie ihre Städte und die zeremoniellen Gebäude.
Den Menschen in der Mississippizeit waren auch die grundlegenden Prinzipien der Himmelsmechanik bekannt. Sie beobachteten beispielsweise, daß der volle Mond zur gleichen Zeit aufgeht, zu der die Sonne untergeht. Sie zeichneten den 18,6 Jahre dauernden Mondumlauf auf und legten die Hügel so an, daß der Zeitpunkt, an dem der Mond in diesem Zyklus seine südlichste Position erreicht, bestimmt werden konnte.
Die Behauptung, die Mississippimenschen hätten mehr über Astronomie gewußt als der Durchschnittsamerikaner unserer Tage, ist keine Übertreibung.
Als Hernando de Soto 1541 seine Expedition in das Mississippigebiet unternahm, war die Kultur der Hügelbauer bereits untergegangen. Die ehemals dichtbevölkerten Zentren waren verlassen, Tausende Morgen Ackerland lagen brach. Warum? Was war mit diesen Menschen und ihrer
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