Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
Sterngucker tot ist?
Und wenn er tot ist, waren dann sie und Langer Mann dafür verantwortlich ?
Der Zwerg folgte ihr. Das über die Schulter hängende Bündel mit der Maske gab ihm ein groteskes Aussehen.
Sternmuschel hatte große Angst.
Silberwasser sitzt an einem kleinen Teich. Moos polstert die Felsen am Ufer wie eine weiche grüne Decke. Sie schaut in den Panzer der Schildkröte. Die hat den Kopf eingezogen, aber die gelben Augen sind noch zu sehen. Sie blinzelt jedesmal, wenn eine heiße Träne über Silberwassers Backen rollt und auf ihr Gesicht fällt.
»Er ist tot«, flüstert sie. »Er… er kam mich besuchen … am Ende.«
Silberwasser streichelt zärtlich den Panzer, spürt sein erhabenes Muster unter ihren Fingerspitzen.
Ihr Herz steht in Flammen. Es hört nicht auf zu brennen.
Der Schmerz versteckt sich an der geheimen Stelle in ihrer Seele. Flammen verzehren ihr Inneres, und ihr Gesicht ertrinkt in heißen Tränen.
»Arme Schildkröte«, schluchzt sie und trocknet die Tränen auf dem Panzer. »Ertrinkst du da drinnen?«
Im Moos sieht Silberwasser Tränen. Sieben sind es. Sie haben glitzernde Sterne in der Mitte.
»Sterngucker hat es mir versprochen! Er sagte, wenn ich den Himmel erst richtig verstehe, bleiben die Sterne bei mir.«
Zögernd schaut sie sich um und sieht die Sterne im Teich blinken -auf den Blättern der Bäume, und sie blitzen in den Stäubchen, die durch die Luft wirbeln. Alle tanzen.
Sie vermißt Sterngucker.
Er starb an Einsamkeit.
Auch sie ist einsam. So einsam, wie sie es noch nie in ihrem Leben gewesen ist. Ihr Vater jagte ihr immer Angst ein. Nun tut es ihre Mutter. Wenn ihre Mutter nur mit ihr über die Maske reden würde…
Silberwasser legt sich auf das Moos neben die Schildkröte, rollt sich zu einer Kugel zusammen und versucht, mit Armen und Beinen einen Schutzpanzer zu bilden.
36. KAPITEL
Ich kauere über meiner Beute, starre in sein gebrochenes Gesicht. Warte, daß es endlich vorbei geht.
Der Sturm hat sich gelegt; jetzt will ich sehen, was das Unwetter angerichtet hat. Und beten, daß es genug ist, um uns zu retten, wenn die Zeit kommt.
Nur wenige können am Rand des Abgrunds gehen, ohne abzustürzen. Noch weniger haben den Mut, sich herauszuziehen, wenn sie ausrutschen…
Kleine Maus träumte. Es war ein besonderer Traum: Dieses Mal träumte Kleine Maus seinen Tod.
Er hatte schon früher geträumt, daß er stirbt. Das Sinken, das Entsetzen vor den Flüchen seiner Mutter, aber stets war er vor dem Tod aufgewacht. Nun erlebte er, was nach dem Tod geschieht, und seine Seele litt in einsamer Gefangenschaft.
Er ertrank in Dunkelheit, sein Leichnam schwerelos mit den Strömungen treibend.
Wo Leben gewesen war, blieb nur hohle, schmerzende Einsamkeit. So also war es, ein Geist zu sein.
Es war kalt, seine Haut weiß und vom Wasser aufgequollen. Um ihn herrschte schwerelose Stille. Das Schaukeln und Treiben in der Dunkelheit beruhigte ihn.
Werde ich jetzt allein sein? Ist das mein Fluch ? Hier, auf dem Grund des Süßwassermeers, gab es keine anderen Geister. Er war allein, seine Seele der Vergessenheit anheimgegeben.
Nur Einsamkeit, Dunkelheit und Kälte würde er spüren. Für alle Ewigkeit.
Was machte ein Geist in diesem schwarzen Nichts ? Du wirst es ertragen… weil es nichts anderes gibt.
Der Gedanke tröstete ihn nicht. Er könnte toben, in die düstere Stille schreien, die Dunkelheit bis zur Raserei schlagen und peitschen. Und niemand würde es bemerken oder sich darum kümmern. Nie vorher hatte er sich eine solche Verlassenheit der Seele vorstellen können.
Er hatte gehofft, in einer Schlacht zu sterben, im Kampf gegen würdige Feinde - man hätte seine sterblichen Überreste in die Stadt der Toten getragen und dort nach dem vorgeschriebenen Ritus versorgt. Dann hätte er das Reich der Ahnen betreten, wo er mit der Hochachtung und Bewunderung begrüßt worden wäre, die einem Mann seines Rangs und Rufs gebührte. Nicht dies…
Allein. Treibend. Für immer.
Du mußtest sterben, hörte er eine mitfühlende Stimme. »Wo bist du?« Ein schwacher Funke flammte in der Ruhe auf. Hier, Kleine Maus. Dein Kopf ruht auf meinem Schoß. »Ich bin tot, Großonkel.«
Er war nicht allein! Dies erfüllte ihn mit einem Hochgefühl, das seinen Körper wie ein Orgasmus durchströmte - und dazu stiegen Bilder von seiner Mutter auf.
»Das hat sie mir angetan, Großonkel. Sie hat sich an mir gerächt, weil ich ihr den Schädel gespalten habe. Aber ich mußte es
Weitere Kostenlose Bücher