Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
warnen?
Nein. Sie wird mich anschreien. Fragen, woher ich es weiß. Fragen, ob die Maske es mir verraten hat.
Silberwasser blickt wieder auf Bleiche Schlange. Er mustert das Bündel mit der Maske, das auf der anderen Seite des Feuers liegt. Die Maske ist merkwürdig still geworden, als wären ihr die Worte ausgegangen. Oder ist sie nur müde?
Bleiche Schlange streicht nachdenklich über sein Kinn. Silberwasser beugt sich zu ihm hinüber und flüstert: »Die Maske schläft.«
Bleiche Schlange dreht sich nach ihr um. »Ich weiß«, antwortet er, ebenfalls flüsternd.
Silberwasser wendet sich ihm zu.
Bleiche Schlange wartet, daß sie spricht, dann lächelt er. »Was möchtest du mir sagen?«
Heiser sagt sie: »Siehst du sie?« Mit den Augen weist sie auf die Schlangen im Wald.
Bleiche Schlange folgt ihrem Blick zum Wald. »Nein. Aber ich spüre da draußen etwas. Was siehst du ?« Sehr ernst blickt er Silberwasser an.
Die Worte strömen aus ihrem Mund: »Ich - ich sehe Schlangen. Viele. Sie habe glänzende Schuppen, sie züngeln…«
Der Feuerschein beleuchtet sein Gesicht. Unheimlich.
»Schlangen«, wiederholt sie kaum hörbar. »Dort zwischen den Bäumen.«
Sein Gesicht entspannt sich. »Wo? Zeig sie mir.«
Silberwasser ruft: »Da! Siehst du sie? Hinter den Büschen. Eine kriecht auf uns zu.«
»Wirklich?«
»Ja, und sie… ist riesig. Sie könnte uns auf einmal verschlucken.« Ihre Hände zittern.
Bleiche Schlange streichelt ihr zärtlich übers Haar. »Hat die Schlange zu dir gesprochen?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Ich bin aber sicher, daß sie es tun wird.«
»Warum? Warum sollte sie?«
Ein Lächeln wärmt sein Gesicht. »Ich glaube, deshalb ist sie hier. Für dich, Kleine. Ich habe diese Schlange schon kennengelernt, also kann sie mich nicht suchen. Und deine Mutter, na ja…« Er seufzt.
»Sie ist nicht von der Art, daß die Schlange sie gern verschlucken möchte.«
Silberwassers Herz hämmert. »Aber ich… ich will nicht von der Schlange gefressen werden!«
»Aber eines Tages wirst du es wollen«, antwortet er. Er senkt seine Stimme, und sagt: »Eines nicht sehr fernen Tages, glaube ich.«
»Nein. Nein, ich… ich will nicht…«
Da kommt Sternmuschel aus dem Wald. Silberwasser schaut flehend zu Bleiche Schlange, möchte noch mehr mit ihm reden …
Ihre Mutter setzt sich ans Feuer. »Was ist los?« will sie wissen und schaut erst Silberwasser, dann Bleiche Schlange an.
»Gar nichts«, antwortet er und faßt ein Knie mit den Händen. »Hast du gesehen, ob sich im Dunkeln etwas bewegt, Sternmuschel?«
»Nein. Warum?« Mißtrauen schwingt in ihrer Stimme.
Bleiche Schlange lacht leise. »Wir wußten, daß du nichts sehen würdest«, sagt er. »In zehnmal zehn Jahren nicht, Sternmuschel. Du bist nicht dafür geschaffen.«
»Warum mußt du mich eigentlich immer beleidigen, wenn ich am wenigstens damit rechne.«
»Sei nicht albern.«
»Ich lege mich schlafen!« sagt Sternmuschel. »Komm, Silberwasser. Ich bin sehr müde.«
»Ja, Mama.« Silberwasser springt auf und faßt die kalte Hand ihrer Mutter.
Als sie an Bleiche Schlange vorbeikommen, zwinkert er ihr zu, und Silberwasser kann wieder atmen.
Bleiche Schlange formt stumm die Worte: Hab keine Angst.
Er steht auf und tritt mit dem Fuß Erde auf das Feuer. Dabei wirbelt Staub auf, und die Schlangen gleiten in den Wald zurück und sind verschwunden.
Mit offenem Mund sucht Silberwasser sie. Aber sie sind fort. Alle. Er hat sie getötet.
Silberwasser hat sich vergewissert, daß ihre Mutter sie nicht beobachtet, und sie winkt Bleiche Schlange. Er lächelt, und auch auf ihren Mund zieht ein kaum merkliches Lächeln.
Ganz kurz verwandelt sich die Welt.
Die Blätter der Bäume sind in Sternenlicht getaucht. Die Felsen, die Grashalme, die Wolken, alles schimmert. Und sie weiß, alles wird gut, wenn sie ihr Herz öffnet und die Sterne einläßt. Dann werden alle Schatten verwehen.
Die Schlangen werden sie nicht fressen.
Nicht, solange sie es nicht will.
Nackt und triefend watete Schwarzschädel ans Ufer. Er blickte zurück über das glänzende Süßwassermeer und zum Horizont, wo bald die Sonne aufgehen würde. Sie hatten die Halbinsel umrundet und würden nun weiter nach Süden fahren.
Er hob die Arme, und aus dem Herzen strömte ein Lied der Freude und des Dankes. Zwar hatte er das Lied gestohlen, beim Blutclan sang man es, aber er glaubte, daß sie nichts dagegen haben würden.
Beim Singen fühlte er sich wohl, fand innere
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