Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
»Wie ich die Sonne aus dem Süßwassermeer steigen sah? Werden sie mir glauben? Über den Sturm, der das Wasser zu Wellen aufpeitschte, höher als ein Clanhaus? Über Landstriche, wo die Menschen nichts von Bunte Krähe gehört haben? Sie würden mich nur verständnislos ansehen.«
»Aber nach vielen Reisen kannst du müde werden«, entgegnete Otter. »So erging es Onkel, und er wollte nach Hause, um zu heiraten und eine Familie zu haben. Auch wenn Perle und ich einen gemeinsamen Weg finden, werden wir eines Tages Kinder haben wollen.« Mit ernster Miene fuhr er fort: »Dicker Frosch sagt, das kann man nicht gut auf dem Wasser tun.«
Schwarzschädel lachte vergnügt. »So viele Sorgen - und wir sind noch gar nicht am Brüllenden Wasser. Denk jetzt nicht daran, Händler. Wenn Bunte Krähe es gut mit uns meint, hast du später noch genug Zeit dazu. Vorerst gibt es Wichtigeres.«
»Du meinst die Leute vom Dachsclan?« Otter blickte auf die Dünen, die in der Morgensonne orangerot glühten.
»Sie sind unsere geringste Sorge. Irgendwo hinter uns sind immer noch die Khota - oder glaubst du, sie sind alle ertrunken? Der herrliche Strand, den Perle letzte Nacht für uns entdeckt hat, verschafft uns nur eine Atempause, es ist ein Geschenk des Schicksals, damit wir unsere Kräfte wieder auffrischen können.«
»Du hast recht. Wir können alle den Tod finden, ohne unser Ziel erreicht zu haben.« Otter blickte auf die Schlafdecken am Strand. »Wenn ich sie beschützen könnte…«
»Du kannst es nicht. Und es steht dir nicht zu.«
»Und wenn ihr etwas zustößt?«
»Und wenn dir etwas zustößt? Was dann? Glaubst du, ihr würde nicht das Herz brechen? Du mußt mit dem Verdreher darüber sprechen, daß du dir an allem die Schuld gibst. Wenn ihr etwas geschieht, Otter, werden wir alle um sie trauern, wenn du sterben solltest, wirst du auch ein Loch in unsere Seele reißen. Aber so ist nun mal das Leben.«
»Gewiß, aber deshalb braucht es mir doch nicht zu gefallen, oder?«
Schwarzschädel musterte seinen Freund. »Warum bist du dann hier unten, gehst hier herum, anstatt unter Perles Decken zu liegen?«
»Dafür haben wir noch nicht die richtige Zeit gefunden. Seit wir das Lager von Forelle hinter uns gelassen haben, sind wir hier das erste Mal an Land. Perle war todmüde, ich konnte nicht schlafen.
Und um ehrlich zu sein, außer Gefahr sind wir noch nicht.«
»Du könntest auch einfach sagen, daß ihr noch immer Angst voreinander habt.«
»Ja, gut, könnte ich … tue ich aber nicht.«
Schwarzschädel schmunzelte. »Geh lieber und schlafe noch ein bißchen. Ich halte inzwischen Wache.
Wenn die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht, fahren wir weiter nach Süden.«
Otter schaute auf die Sonne, die jetzt rot über dem Horizont hing. »Ich würde gern eines Tages wieder herkommen und an diesen Ufern entlangfahren, ohne daß ich einen Wettlauf machen muß.«
»Einen Wettlauf«, fragte Schwarzschädel langsam, Otters Blick folgend. »Ein Krieger entwickelt ein Gespür für so etwas. Wolf der Toten ist noch immer hinter uns her - und er ist noch verzweifelter darauf aus, uns zu fangen, als vorher.«
42. KAPITEL
An einem Geisthelfer zu zweifeln, setzt Mut und Verzweiflung voraus.
Sie sind schließlich unsterblich.
Dennoch habe ich herausgefunden, daß sie unvollkommen sind -oder besser vollkommen blind.
Weder Erster Mann noch Bunte Krähe betrachten die Gesamtheit. Sie befinden sich deshalb im Krieg, die Welt schwankt hin und her in einem heldenhaften Wiegenlied von Tragik und Verzückung, von Licht und Dunkelheit.
Dieser Krieg dauert ewig.
Das ist möglicherweise die einzige Wahrheit.
Aber ich denke, daß es eine Brücke geben muß, eine Brücke, die diese Gegensätze verbindet, den Krieg beendet und es dem Träumer ermöglicht, das Schlachtfeld zu überqueren, ohne von den streitenden Parteien gefangengenommen zu werden.
Ein Verdreher ist die Verkörperung jener ewigen Gegensätze. Ich stehe genau in der Mitte, so daß ich beide Seiten sehen kann. Aber ich sehe keine Brücke, nur den erbarmungslosen Kampf.
Die Ältesten des Clans sprachen immer von der stillen Seele des Geheimnisvollen.
Und ich frage mich, ob sie nicht die Brücke ist, die ich suche. Aber wie finde ich sie?
Ist sie in mir? Ist sie außerhalb? Oder ist sie innen und außen?
Dunkle Ahnungen regen sich in mir wie eine Antwort auf diese Frage.
Steinfaust saß auf einem Baumstumpf vor seinem Haus und genoß die Wärme. Das Frühjahr war
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