Vorzeitsaga 07 - Das Volk der Blitze
Körpers nicht schützen konnte. Es juckte ihn fürchterlich.
Tauchvogel verzehrte seine Muscheln und blickte dabei auf die Hirschbeinahle von Muschelweiß, die neben ihm auf der Matte lag. Das allein war ihm schon ein Trost. Er hatte unaufhörlich von ihr geträumt und sich gefragt, ob sie schon geheiratet hatte, besorgt über ihr unausweichliches Schuldgefühl. Sie würde sich selbst die Schuld am Tod ihrer Kinder und an seiner Gefangennahme geben. So war sie nun einmal. Sicher litt sie unter der irrigen Annahme, dass sie alle hätte retten können, wäre sie nur dort gewesen. Vielleicht hätte ihre Anwesenheit die Kinder tatsächlich gerettet, und möglicherweise hätte sie seine Auseinandersetzung mit Blaues Echo verhindern können. Ihm zog sich der Magen zusammen. Er hob die Schale, trank sie leer und setzte sie ab.
»Bist du bereit zu sprechen?« fragte Kupferkopf. Die Falten um seine Augen waren so tief wie Schluchten.
»Ich habe dir nichts zu sagen. Lass mich allein.«
»Allein - so etwas gibt es nicht, Tauchvogel«, entgegnete Kupferkopf sanft. »Da du bist, bist du mit allem verbunden - mit dem Weißwedelhirsch, den Delphinen und den Wolken, die am Horizont entlangziehen. Die Vorstellung, davon losgelöst zu sein, ist eine Illusion, die wir uns schaffen, um unsere Fehler zu rechtfertigen; so brauchen wir uns nicht dafür verantwortlich zu fühlen, wenn wir der Welt das Herz brechen. Was wir aber tun, wie du weißt - in jedem Augenblick unseres Lebens. Selbst wenn wir -«
»Du bist verrückt.«
Kupferkopf zog ein Knie an und umschlang es mit beiden Armen. »Vielleicht. Das spielt keine Rolle.
Schmerz ist Schmerz. Wahrheit ist Wahrheit.«
»Was weißt du denn von Wahrheit?« stieß Tauchvogel hervor. »Oder von Schmerz? Du kannst ja nicht einmal atmen, ohne jemandem wehzutun.«
»Das ist es, Tauchvogel«, sagte Kupferkopf in düsterem Ton, »was ich dir schon die ganze Zeit zu sagen versuche. Niemand kann das, weil es das Los der Menschen ist. Und nur wenn wir das begreifen, können wir uns selbst retten. Leben heißt Schmerz zufügen, Schmerzen erfahren. Nichts kann uns davor bewahren. Doch es ist uns möglich, mit dieser Wahrheit zu leben, ohne dabei unsere Seelen zu töten.« Das sich abschwächende Licht der Sonne schien purpurrot auf seine gebräunten Wangen. »Willst du dich selber retten? Wenn du willst, lehre ich es dich.«
Tauchvogel lachte verächtlich. »Ist das der Unsinn, mit dem du die Leute hier dazu bringen willst, dir zu folgen?« Kupferkopf schaute zur Seite. »Wenn der Sturmbläser wieder über das Land schreitet, wirst du dich danach sehnen, in die strahlende neue Welt zu entfliehen, die jenseits der Sterne auf meine Anhänger wartet. Was du zu lernen hast, ist einfach. Wenn du mir zuhören willst, dann brauchen wir nur -«
»Es gibt überhaupt nichts, was ich von dir lernen will.« Kupferkopf beugte nachsichtig den Kopf.
»Wie du willst.«
Pelikane segelten dicht über dem Meer, das allmählich dunkler wurde, und schössen im Sturzflug ins Wasser. Kupferkopf beobachtete sie aus zusammengekniffenen Augen.
Tauchvogel packte die Hirschbeinahle, glitt über die Matten zum nordöstlichen Pfosten und lehnte sich dagegen. Die Wachen hatten mit ihrem Glücksspiel angefangen und warfen Stöckchen, behielten ihn aber dabei genau im Auge. Tauchvogel ließ den Kopf gegen den Pfosten fallen und atmete tief aus.
Der Abendwind zerrte an seinem zerzausten Haar und kühlte sein erhitztes Gesicht. Er lebte jetzt nur noch von Tag zu Tag, erhoffte sich nichts mehr und betete trotzdem um alles. Er hatte entdeckt, dass ihm auf diese Weise auch die kleinsten Dinge Freude bereiten konnten: ein Zank zwischen Möwen brachte ihn eine halbe Zeithand zum Lachen; ein Ehemann, der seine Frau liebevoll berührte, weckte in ihm Gefühle überwältigender Zärtlichkeit; ein Kind, das über den Schwanz eines Hundes stolperte, bereitete ihm unbeschreibliches Vergnügen.
Kupferkopf drehte ein im Sand vergrabenes Stück Muschel um und betrachtete die matt purpurnen Rillen. »Ich glaube ernsthaft an diese andere Welt, die mir in meinen Träumen verheißen worden ist, Tauchvogel. Ich sehe, du denkst, dass ich lüge, um Anhänger zu gewinnen, aber das ist nicht der Fall.«
»Nein?«
Kupferkopf schüttelte den Kopf. »Versteh das doch, Tauchvogel: Ein Mensch, der nur eine gerade Linie zum Grab vor sich sieht, dessen Leben ist doch nichtig und leer, voll wachsender Sorgen und Bitterkeit, und ich kann nicht
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