Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
er hat darauf bestanden, dass du mir trotzdem von seinen Träumen berichtest?«
»Ja.«
»Und, was hältst du davon? Hat er irgendetwas gesagt, das darauf hindeutet, dass das Falschgesicht sich möglicherweise geirrt haben könnte?«
Rufender Falke trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. »Nein. Ich meine, ich bin sicher, dass er nur ein alter Spinner ist. Jeder denkt so. Aber ich muss zugeben, dass ich mir über die Vision von Falschgesicht so meine Gedanken gemacht habe. Hat er eigentlich die Worte von diesem Geisterjungen erklärt, wonach Großvater Tagbringers Kinder uns angeblich verfolgen?« Lahmer Hirsch holte seufzend Atem. Seine Gedanken schienen keine feste Gestalt annehmen zu wollen. »Polterer hat seiner Mutter erzählt, dass diese Botschaft nur für seine Ohren bestimmt war. Dass wir uns nicht damit zu beschäftigten brauchen.«
Rufender Falke dachte einen Augenblick über das Gesagte nach, dann erhellte sich seine Miene wieder zu einem Lächeln. »Ich wusste, dass das nichts zu bedeuten hat. Soll ich Silberner Sperling wieder wegschicken?«
»Ja. Und vielleicht solltest du ihm noch den guten Rat geben, unverzüglich heimzukehren und nachzusehen, ob das Erdendonnerdorf noch steht.«
Rufender Falke lachte. Sperlings frühere Ehefrau, Aschenmond, die Anführerin des Erdendonnerdorfes, ließ keine Gelegenheit aus, dem Verrückten aus dem Weg zu gehen, indem sie jedes Mal das Lager verlegte, wenn er unterwegs war. Es ging das Gerücht um, dass es ihr einmal sogar gelungen wäre, das gesamte Lager abbauen zu lassen und Weiterzuziehen, während Silberner Sperling tief und fest schlief.
Lahmer Hirsch legte sich wieder nieder und schob einen Arm unter den Kopf. »Und beeil dich, Rufender Falke. Rote Pfeife soll gar nicht erst merken, dass Sperling hier gewesen ist, sonst nervt er uns wieder mit seinen Wahnvorstellungen. Jedesmal, wenn Rote Pfeife Wind davon bekommt, dass Sperling irgendwo in der Nähe ist, schläft er mit seinem Bogen und seinem Kriegsbeil im Arm.« »Ich gehe schon«, sagte Rufender Falke und ließ das Türfell fallen.
Lahmer Hirsch schloss wieder die Augen und lauschte den sich entfernenden Schritten von Rufender Falke.
Vier Hand Zeit später erwachte Lahmer Hirsch.
Eine seltsame Dunkelheit erfüllte seine Hütte. Er spähte hinauf zu dem Rauchabzugsloch, konnte aber keine von Nachtwanderers fedrigen Wölkchen entdecken. Wolkenriesen mussten sie alle verschluckt haben.
Lahmer Hirsch zog seinen dicksten Umhang über, schlüpfte in seine Mokassins und griff nach Bogen und Köcher.
Als er sich durch den Türvorhang nach draußen duckte, fuhr ihm die eisige Nachtluft wie Pfeilspitzen in die Lungen. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er die kleinen, runden Umrisse der Hütten ausmachen. Im Buntfelsendorf war friedliche Ruhe eingekehrt. Hier und da stahlen sich ein paar rot glühende Funken durch den Rauchabzug einer Hütte und tanzten dem nachtschwarzen Himmel entgegen. Lahmer Hirsch erschauderte fröstelnd, als er über den gefrorenen Dorfplatz schritt.
Windmutter säuselte durch die hoch aufragenden Eichen und wehte ihm das ergrauende Haar ums Gesicht. Die eisige Feuchtigkeit des Bodens fraß sich durch seine Mokassins. Noch hatte es nicht geschneit, doch die Luft roch bereits intensiv nach Schnee.
Leise ging er an der Hütte von Wilde Rose vorbei und folgte dem ansteigenden Pfad hinauf auf den Hügel.
Er hatte unruhig geschlafen. Alte Geister hatten ihn ständig in seinen Träumen heimgesucht. Die Toten waren gekommen, um ihre eisigen Körper um seinen zu schlingen wie sich paarende Schlangen. Lahmer Hirsch hatte nie wie viele Mitglieder seines Klans die Gabe besessen, Träume zu deuten. Rote Pfeife zum Beispiel konnte man den absonderlichsten, verworrensten Albtraum erzählen, und binnen dreißig Herzschlägen hatte er die Bedeutung dieses Traumes enträtselt und konnte einem genau sagen, was man tun musste, um die Mächte versöhnlich zu stimmen.
Morgen werde ich Rote Pfeife aufsuchen. Vielleicht kann er mir helfen, die Bilder zu verstehen. Ehe er noch an der alten Eiche anlangte, sah er, dass Rufender Falke nicht auf seinem Posten war - obwohl jeder Krieger im Dorf wusste, dass es den Tod bedeutete, seinen Wachposten ohne Erlaubnis zu verlassen.
Wutschnaubend stapfte Lahmer Hirsch den Pfad hinan. Knirschend zermalmten seine Mokassins das gefrorenen Laub. Und dann blieb er abrupt stehen. Er hatte vor dem Stamm einer Platane einen seltsamen
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