Vulkanpark
Benjamins
Richtung und fuhr sich mit einem Taschentuch über die Augen.
»Timo
hat sich sehr für Vulkane interessiert. In einer Mappe sammelte er alles, was
er über die Entstehung der Vulkane fand.« Sie faltete einen mitgebrachten
Zettel auseinander und las laut vor: »›Vulkane schlafen nur‹, hat er
geschrieben. ›Niemand kann wissen, wann sie erwachen. Die Katastrophe, die ihre
Ausbrüche anrichten, ist immens‹.« Die Menschen im Saal lauschten gebannt. Sie
faltete den Zettel wieder und strich ihn glatt.
»Vulkane
können nicht denken. Menschen können das. Benjamin Jacobs hat genau gewusst,
was er anrichtete. Unsere Familie hat eine Katastrophe erlebt. Unser Kind ist
tot. Ermordet von einem Mann, der nicht zu seiner Tat steht. Der sich hinter
fadenscheinigen Ausreden versteckt. Das ist einfach nur erbärmlich.« Sie hielt
kurz inne, fuhr dann mit brüchiger Stimme fort. »Die Trauer hört einfach nicht
auf. Deshalb habe ich mich entschlossen, dem Mann, der meinem Kind
unvorstellbare Dinge angetan hat, hier und heute ins Gesicht zu sehen.«
Demonstrativ blickte sie in die Richtung von Benjamin Jacobs, der unter diesen
Worten regelrecht zusammenzuckte. Nur mühsam beherrschte sie sich. »Und der
nicht den Mut hat, sich dazu zu bekennen, was er angerichtet hat.« Dann sprach
sie Benjamin direkt an: »Sie waren der letzte Mensch, der mein Kind lebend
gesehen hat. Haben Sie bitte den Anstand, mich, seine Mutter, über die Umstände
von Timos Tod zu unterrichten.« Ihre Ansprache war ein Kraftakt. Immer wieder
versagte ihr die Stimme. »Timo ist tot, er kann nichts mehr von seinen letzten
Stunden erzählen. Sie sind der Einzige, der es kann. Bisher haben Sie
geschwiegen. Ich bitte Sie inständig: Helfen Sie mir, das Unbegreifbare
irgendwie zu verstehen.«
Sie blickte auf ihre ineinander verkrampften Hände. »Warum haben Sie das
getan?«
Im
Gerichtssaal war es totenstill. Franca hatte Benjamin die ganze Zeit
beobachtet. Er bemühte sich sichtlich, seine unbewegte Miene beizubehalten,
jedoch seine zuckenden Augenlider verrieten, dass ihn diese Ansprache nicht
unberührt ließ. Seine Hände waren ständig in Bewegung.
Barbara
Sielacks Worte ließen niemanden kalt. Den Schöffen waren Tränen in die Augen
getreten. Man hörte, wie sich Menschen im Saal die Nase putzten. Jeder
versuchte, irgendwie die Fassung zu wahren.
Doch
Benjamin Jacobs schwieg auch jetzt.
Anhand
von zahlreichen Indizien sah es das Gericht am Ende als erwiesen an, dass der
Angeklagte für die ihm vorgeworfenen Taten verantwortlich zeichnete. Die
Polizei hatte einige Gegenstände in Benjamin Jacobs’ Wohnung sichergestellt,
darunter auch die Tatwaffe, ein Jagdmesser, mit dem er Timo getötet hatte.
Hinzu kamen Faserspuren und Fingerabdrücke, sodass für die Strafkammer kein
vernünftiger Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten bestand.
In
seiner Urteilsbegründung sprach der Vorsitzende Richter von der Angst, die die
beiden kindlichen Opfer erleiden mussten. Das Mädchen konnte entkommen, doch
Timo war seinem Mörder hilflos ausgeliefert. Dem Jungen gegenüber hat sich der
Angeklagte in besonders entwürdigender Weise verhalten. Das Kind hatte keine
Chance gegenüber einem starken, durchtrainierten Erwachsenen.
»Der
Mord war wohlüberlegt, keine Spontantat. Der Täter hat den Jungen ausgespäht
und ihm aufgelauert. Benjamin Jacobs ist der Illusion erlegen, dass ein totes
Opfer ein schweigendes Opfer ist. Er hat vergessen, dass auch Fakten sprechen
können. Unwiderlegbare Fakten. Doch er zieht es weiter vor zu schweigen. Wohl
wissend, dass Schweigen viel Raum lässt für Spekulationen.«
Benjamin
Jacobs wurde wegen der besonderen Schwere der Schuld zu einer lebenslangen
Freiheitsstrafe und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.
Damit
war so gut wie ausgeschlossen, dass die Strafe für Benjamin Jacobs nach 15
Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden würde.
»Was
das Kind während der letzten Stunden seines Lebens durchlitten hat, ist von
derartigem Gewicht, dass es sich beim Strafmaß auswirken muss«, sagte der
Vorsitzende Richter.
Im
Publikum brandete Jubel auf, einige Menschen applaudierten, doch Richter
Kowalek ermahnte: »Bitte wahren Sie Würde.«
Das
letzte Wort hätte der Angeklagte gehabt. Sein Blick ließ sich nicht deuten,
aber Reue und Scham waren nicht darin. Er erhob sich nicht, fixierte das
Mikrofon vor seinem Platz und schwieg. Wahrscheinlich weiß er, wenn er
offenbart, was wirklich in ihm vorging,
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