Wächter der Menschheit - Green, S: Wächter der Menschheit - The Man with the Golden Torc
noch ein kleines Kind war. Als ich sie anschaute, so jung und voller Leben, wurde mir klar, dass ich jetzt älter war als sie zum Zeitpunkt ihres Todes.
Der Seneschall hielt sich schweigend dicht neben mir auf, machte mich durch seine Nähe auf seine Ungeduld aufmerksam, aber ich ließ mich nicht hetzen. Hallo, Papa, dachte ich. Hallo, Mama. Ich bin zurückgekommen. Aber sonst fiel mir nichts ein, also nickte ich ihnen bloß zu und ging weiter.
Schließlich führte mich der Seneschall in die Bibliothek, wo ich warten sollte, bis die Matriarchin bereit wäre, mich zu empfangen. Er neigte noch einmal den Kopf, sehr steif, und entfernte sich, wobei er die Tür fest hinter sich zuzog. Ich schnitt der geschlossenen Tür ein Gesicht und entspannte mich ein wenig. Mit dem Seneschall irgendwohin zu gehen kam einem immer so vor, als würde man mit einer Pistole im Rücken abgeführt. Ich schlenderte langsam durch die vielen, hoch aufragenden Bücherregale der Familienbibliothek und atmete die altvertrauten Gerüche der Ledereinbände, des Papiers, der Tinte und des Staubs ein. Auf diesen Regalen, in diesen Büchern, ist die wahre Geschichte der Welt festgehalten. All die geheimen Übereinkünfte und Verträge, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Versprechen und Treubrüche und all die geheimen Kriege, die hinter den Kulissen geführt werden und von denen normale Leute nie etwas erfahren. Die raffinierten Schachzüge auf dem unsichtbaren Brett, im größten Spiel von allen.
Hier im Herrenhaus kam ich auf die Welt, wurde ich großgezogen und ausgebildet, wie alle anderen Drood-Söhne und -Töchter, aber ich war einer der ganz wenigen, die sich je die Mühe machten, ein Buch zu lesen, das nicht Teil des offiziellen Lehrplans war. Ich entdeckte die Bibliothek, als ich zehn war, und danach war ich nicht mehr aus ihr draußen zu halten. Die Familie bringt einem bei, wovon sie glaubt, man müsse es wissen, und darüber hinaus nichts. Ich hingegen verschlang Bücher wie andere Leute Junkfood, und was die Familie als Bildung bezeichnete, betrachtete ich bald als Indoktrination. Ich wollte alles wissen, die reinen Fakten wie auch die Zusammenhänge. Und je mehr ich las, desto mehr wollte ich in die wirkliche Welt hinaus und sie sehen, wie sie wirklich war.
Lange Zeit konnte ich nicht verstehen, wieso das solch ein Problem für meine Lehrer war. Ich wurde dazu ausgebildet, das Böse zu bekämpfen, zu wissen, wer die wahren Feinde der Menschheit waren und wie man sie besiegte; also war es doch bestimmt umso besser, je mehr ich über sie wusste. Wann immer ich etwas infrage stellte, jedes Mal wurde mir gesagt, ich solle einfach die Klappe halten und weitermachen wie alle anderen auch, denn nur Leute, die älter und mir geistig überlegen seien, könnten das Große Bild sehen. Also las ich eben weiter und versuchte es auch zu sehen.
Das Problem mit der Drood-Familienbibliothek ist die verdammte schiere Größe von dem Ding. Meilen über Meilen von Bücherregalen und -brettern, die das gesamte untere Stockwerk des Südflügels einnehmen, jedes zum Bersten vollgepackt mit dem geballten Wissen und der gesammelten Weisheit von Jahrhunderten. Bücher, geschrieben in jeder Sprache unter der Sonne, und manche auch in Sprachen von dunkleren Orten, darunter ein paar derart arkane Dialekte, dass menschliche Stimmbänder sie nicht laut aussprechen können. Also las ich, was ich konnte, im Original, und setzte dem Bibliothekar unaufhörlich zu, bis er mir die Übersetzungen für diejenigen heraussuchte, bei denen ich das nicht konnte. Ein komischer Kauz, der Bibliothekar. Trug schreiend bunte Pullover, auch im Sommer, und ging jedes Wochenende Motocrossrennen fahren. Er verschwand plötzlich, Jahre bevor ich wegging. Wir haben nie herausgefunden, was ihm zugestoßen ist.
Ich wanderte ziellos durch die Regale und strich mit den Fingerspitzen leicht über die ledernen Buchrücken. Wir glauben an Bücher. Computerdateien können gehackt werden; Papier nicht. Der einzige Weg, Zugang zu den Informationen in dieser Bibliothek zu erhalten, ist, persönlich hierherzukommen. Und der einzige Weg, das zu tun, ist, Teil der Familie zu sein.
»Hallo, Eddie! Schön dich wiederzusehen!«
Ich drehte mich um, bereits ein Lächeln auf den Lippen, denn ich wusste, wer das war, wer es sein musste. Es gab nur ein lebendes Familienmitglied, das sich tatsächlich freuen würde, mich wiederzusehen. Mit großen Schritten kam Onkel James auf mich zu, um mich
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