Arktis-Plan
Prolog
5. MÄRZ 1953
In der kanadischen Arktis
Nichts lebte auf der Insel. Dort war kein Leben möglich.
Es war ein schroffer, zerklüfteter Felsgrat, dem Stürme übel mitgespielt hatten. Nicht weit vom Magnetpol der Erde entfernt erhob er sich aus dem Eis und den eiskalten Wassermassen des Nordpolarmeers. Eine schlanke Mondsichel, die sich von Osten nach Westen über eine Länge von zwölf Meilen zog, an der breitesten Stelle zwei Meilen maß und sich an den Spitzen auf eine Viertelmeile verjüngte, mit einer Art kleiner Bucht am westlichen Ende. Zwei markante Gipfel ragten aus dem schmalen, mit Geröll übersäten Flachland an der Küste auf, durch einen vergletscherten Bergsattel miteinander verbunden.
Flechten und ein paar erfrorene Büschel verkümmertes Seegras rangen zwischen den rissigen Felsen um ihr bloßes Dasein. Vereinzelte Dreizehenmöwen und Eissturmvögel bezogen während der kurzen arktischen Sommer ihre Schlafplätze auf den Klippen. Gelegentlich schleppte sich eine Robbe oder ein Walross die Geröllstrände hinauf, und noch seltener tappte ein majestätischer Eisbär geisterhaft durch den eisigen Nebel.
Aber nichts lebte dort dauerhaft.
Die Insel war einer von zahllosen Landkrümeln, die zwischen der Nordküste Kanadas und dem Pol verstreut waren. Sie gehörte zu den Queen Elizabeth Islands, und jede Insel dieses Archipels war so trostlos und von Schneestürmen gebeutelt wie die andere.
Die Menschheit hatte die meiste Zeit nichts von der Existenz dieser Insel gewusst und sie daher auch nicht aufgesucht. Wenn der
eine oder andere weit gereiste Inuitjäger auf einer seiner Wanderungen ihre Gipfel über dem Meeresdunst am fernen Horizont aufragen gesehen hatte, dann hatte die Notwendigkeit des eigenen Überlebens und des Fortbestands seines Stammes jede nähere Erkundung verhindert.
Oder möglicherweise könnte ein Arktisforscher der viktorianischen Ära, der sich der vergeblichen Suche nach der Nordwestpassage verschrieben hatte, die Insel mit einer Hand in einem Fäustling auf seiner ungenauen Landkarte grob skizziert haben. Wenn dem so war, dann hatte sein Schiff zu denen gehört, die dem Untergang im Eis geweiht waren.
Bis zum Ausbruch des Kalten Krieges spielten die Insel und ihre Nachbarinseln in den Angelegenheiten der Menschheit keine Rolle. In den späten vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wurden die Queen Elizabeth Islands von der United States Air Force durch Luftaufnahmen überwacht, eine Vorstufe zur späteren Errichtung einer Radarlinie des Nordamerikanischen Luftabwehrkommandos als Verteidigungsfrühwarnsystem. Zu der Zeit erhielt die Insel einen Namen. Der gelangweilte Militärkartograph, der sie auf den Weltkarten eintrug, nannte sie Wednesday, denn irgendwie musste sie schließlich heißen und die Vermessungsunterlagen waren zur Wochenmitte über seinen Schreibtisch gegangen.
Nicht lange danach erhielt Wednesday Island erstmals Besuch.
Ein plötzlich aufkommender Sturm blies durch die urtümliche Dunkelheit eines arktischen Winters heftig vom Pol hinunter. Winde heulten um die Gipfel der Insel, scheuerten den Schnee von ihren Nordwänden und setzten den schwarzen Basalt ungeschützt dem Ansturm aus.
Möglicherweise war das der Grund, weshalb die Insel unbemerkt blieb, bis es zu spät war.
Schwach drangen die Geräusche starker Flugzeugmotoren, vom Wind mitgerissen, aus dem Norden und nahmen schnell an Intensität zu. Aber es war niemand da, der ihr Getöse hörte, als die Maschine
tief über die Küste der Insel flog. Zu tief. Das Dröhnen der Motoren schwoll plötzlich an und ging in ein – der blanken Verzweiflung entsprungenes – Heulen über, als der Pilot Vollgas gab.
Das Heulen endete abrupt mit dem scharfen, durchdringenden Gellen von Metall, das auf Eis prallt, und die ewigen Winde kreischten triumphierend.
Wednesday Island gab für ein weiteres halbes Jahrhundert keinen Anlass zur Sorge.
Kapitel eins
HEUTE
Kanadische Arktis
Mit grellorangen Parkas und Schneemobilanzügen bekleidet, stützten sich die drei aneinander geseilten Gestalten auf ihre Eispickel und bewältigten mühsam die letzten Meter zum Ziel. Sie hatten den Aufstieg an der Südwand des Felsgrats in Angriff genommen, und das Massiv schützte sie vor den vorherrschenden Winden. Aber jetzt, als sie sich über den Rand des kleinen kahlen Felsplateaus auf dem Gipfel vorkämpften, traf sie die volle Wucht des polaren Fallwinds und ließ die gefühlte Temperatur von
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