Wächter des Mythos (German Edition)
terrassenartigen Platz vor dem Münster, der zum Rhein hin von einer fast 20 Meter abfallenden Mauer gestützt wurde. Von hier aus hatte Roberto einen weiten Blick über den Rhein und das gegenüberliegende Kleinbasel. Unterhalb der Pfalz verband eine kleine Fähre das Großbasel mit dem Kleinbasel, die beiden Hälften der Stadt.
Das Fährboot war an einem über den Rhein gespannten Seil befestigt und konnte so die Strömung des Flusses mit göttlicher Gnade als Antriebskraft nutzen. Die Fähre erinnerte ihn an das Totenreich der Heiden, in dem die Seelen den Fluss des Leidens überqueren müssen. Oh, wie er sich wünschte, dass der unbestechliche Fährmann nur jene auf sein Boot ließ, welche die heiligen Sakramente empfangen und ihre Überfahrt mit dem Obolus des göttlichen Segens seiner Kirche bezahlen konnten. Alle anderen sollten für immer und ewig in den Fluten des Leidens schwimmen müssen.
* * *
Gabriel schwieg und sah Dr. Bernard vorwurfsvoll an. Bernard wich seinen Blicken aus, er holte tief Luft, als wollte er antworten, blieb dann aber stumm. Schließlich seufzte Bernard und begann zögernd, seine Geschichte zu erzählen. Er sah Gabriel nicht an, als er sprach, sondern hielt den Blick unablässig auf seine Hände gerichtet.
»Anfang der 90er-Jahre reiste ich nach Burgos, einer bezaubernden spanischen Stadt in Kastilien-León, um von dort mit dem Jakobsweg zu beginnen. Nachdem ich mir einen Pilgerausweis besorgt hatte, um in den Herbergen übernachten zu können, entschloss ich mich, zuerst nach Silos zu reisen, in den Süden der Provinz von Burgos. Die gregorianischen Gesänge der Mönche von Silos hatten es mir angetan, ihre mediävalen Gesänge vermittelten mir eine tief empfundene kollektive Innerlichkeit sowie die Sehnsucht nach Harmonie und Ruhe.
Damals waren ihre Gesänge noch ein Geheimtipp. Doch schon wenige Jahre später stürmten die Mönche von Silos mit ihren gregorianischen Gesängen die Hitparaden und liefen Mitte der 90er-Jahre sogar ihrer weltlichen Konkurrenz den Rang ab. Eine Zeit lang waren die Gesänge der Mönche überall zu hören, selbst in Kaufhäusern, wo offenbar auf die umsatzsteigernde Wirkung von religiöser Musik gesetzt wurde.
Ihre Gesänge verfolgten mich und immer wurde ich dabei auch an Ihren Bruder erinnert. Da ich Ihren Bruder Ismael als einen sehr talentierten Sänger kennengelernt hatte, bildete ich mir später ein, seine beispielslose Stimme aus dem Chor der Mönche herauszuhören, die voller Inbrunst von den Freuden und Qualen ihrer Liebe zu Gott kündeten.«
Bernard machte eine Pause, da Gabriel, als er den Namen seines Bruders gehört hatte, abrupt auf seinem Stuhl zusammengefahren war. Der Schmerz in seiner Brust hing fühlbar wie ein schwerer Schleier in der Luft. Bernard wartete einen Moment, bevor er mit sanfter Stimme fortfuhr.
»Nun, ich ging also nach Silos und klopfte an die Klosterpforte, um hier in den Genuss der Gesänge zu kommen. Da dies alles noch vor dem großen Erfolg der Mönche geschah, wurde ich als Pilger überaus zuvorkommend aufgenommen. Ich war vom klösterlichen Ambiente vollkommen begeistert und wäre dieser Mönchsgemeinschaft am liebsten beigetreten. Sechsmal pro Tag trafen sich die Mönche während der Arbeitspausen in der Kapelle, um singend zu beten. Man erwartete von mir keine Teilnahme an den liturgischen Zeremonien, doch ich wollte nichts verpassen.«
Bernard unterbrach seine Erzählung, um sich erneut eine Tasse mit dampfendem Kaffee einzuschenken. Gabriel wirkte aufgewühlt und wartete abwesend. In seinen Gedanken war er bei Ismael, seinem toten Bruder.
»Ich blieb also einige Tage im Kloster von Silos, um hier in seinem faszinierenden Kreuzgang, dessen Kapitelle zahlreiche bizarre Fabelwesen zieren, zu meditieren. Hierbei lernte ich auch Ihren Bruder Ismael sehr zu schätzen, der sich während meiner Anwesenheit freundschaftlich um mich kümmerte.
Am dritten Tag meines Aufenthalts traf dann unangemeldet eine kleine Delegation aus Rom ein, was im Kloster für eine gewisse Unruhe sorgte und vor allem Ihren Bruder Ismael zutiefst erschreckte. Einer der Kleriker soll sogar der Erste Sekretär der Kongregation für Glaubenslehre des Vatikans gewesen sein.
Bei der unerwarteten Inspektion ging es um einen Kodex, denn das Kloster Santo Domingo de Silos war im Mittelalter nicht wegen seiner gregorianischen Gesänge bekannt gewesen, sondern wegen seines Skriptoriums. Eines dieser herausragenden Exemplare aus Silos mit
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