Wächter des Mythos (German Edition)
fragte er sich, warum man diesen Geschöpfen des Teufels an den christlichen Kirchen ein Bleiberecht eingeräumt hatte? Dann machte er sich auf den Weg, vorbei an der romanischen Galluspforte und dem Baumhain, zur Augustinergasse. Das oberhalb der Galluspforte befindliche Rosettenfenster, das ein monumentales Glücksrad darstellt, war seiner Aufmerksamkeit bisher ganz entgangen. Um das kreisrunde Fenster klammerten sich Figuren, die – wie zum Hohn auf seine Absichten – die Wechselhaftigkeit des irdischen Glücks symbolisierten.
* * *
Gabriel verzog das Gesicht, als hätte er soeben eine schallende Ohrfeige erhalten.
»Sie haben den Kelch nicht mehr bei sich? Was wollen Sie damit sagen?«
»Dass ich ihn an meine Tochter Alina weitergegeben habe. Sie weiß noch nichts davon, aber ich habe mich dazu entschlossen, genauso wie sich Ihr Bruder damals dazu entschlossen hat, mir diesen Kelch zu geben. Aufgrund Ihrer Geschichte und Familientradition werde ich Sie jedoch nicht daran hindern, meiner Tochter bei der Suche behilflich zu sein. Dadurch wird sich dann ja auch Ihnen die Rätselhaftigkeit des Mysteriums erschließen.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Wenn Sie den Kelch wiederhaben wollen, müssen Sie meiner Tochter bei ihrer Suche helfen. Die Suche ist so angelegt, dass dabei auch das Kelch-Mysterium entschlüsselt werden kann.«
»Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte Gabriel, nach wie vor fassungslos. Die Unterhaltung mit dem Alten wurde allmählich schwierig. War er wirklich von Madrid nach Basel geflogen, um sich auf ein derartiges Spiel einlassen zu müssen?
»Nun, das ist mein Angebot. Helfen Sie meiner Tochter Alina bei der Suche nach dem Kelch, denn sie kann ihn finden. Alina hält sich zurzeit allerdings in einem buddhistischen Tempel in Thailand auf und will höchstwahrscheinlich gar nichts von der Suche wissen.«
Gabriel hatte seine Fassung wiedergefunden und verstand nun, dass der alte kauzige Mann es wirklich sehr ernst meinte.
»Ihre Tochter ist also in Thailand?«
»Ja, ich kann Ihnen gerne ihre Adresse geben.« Er nahm eines der herumliegenden Blätter und begann, die Adresse zu notieren.
»Und wann kommt Ihre Tochter zurück, um sich mit mir auf die Suche zu machen?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe Ihr vor Kurzem in einer E-Mail mitgeteilt, dass es sozusagen mein Wunsch ist, dass sie sich mit diesem Mysterium auseinandersetzt. Sie hat noch nicht geantwortet. Ich muss oft eine ganze Woche auf ihre Antwort warten. Vor Kurzem schrieb sie, dass sie in einem Tempel in Chom-Tong sei und bei einem ›Meditationsretreat‹ mitmache.«
»Und ohne Ihre Tochter kann ich den Kelch nicht finden?«
»Nein. Ohne meine Tochter Alina dürfen Sie ihn nicht finden. Das sind nun einmal meine Bedingungen. Vergessen Sie nicht, dass ich die Gegenleistung bereits erbracht habe: Ich habe diesen Kelch seit der Ermordung Ihres Bruders sorgsam gehütet.«
»Nun, was soll ich also Ihrer Meinung nach tun? Etwa warten, bis Ihre Tochter Lust dazu verspürt, sich mit mir auf den Weg zu machen, um mein Familienerbstück irgendwo zu suchen? Oder soll ich selbst nach Thailand fliegen, nur um sie davon zu überzeugen, dass es sinnvoll sei, sich mit mir auf Kelchsuche zu begeben?« Gabriel musste sich beherrschen, um sich nicht im Ton zu vergreifen.
»Das überlasse ich Ihnen. Hier haben Sie ihre Anschrift. Wenn Ihnen der Kelch wichtig ist, werden Sie dazu bereit sein, meine Tochter Alina zu suchen, wo auch immer in der Welt sie sich gerade aufhalten mag. Außerdem müssen Sie den Kelch nicht irgendwo suchen, meine Tochter wird sehr schnell wissen, wo er zu finden ist.«
* * *
Roberto hatte Glück, denn die Eingangstür war nicht verschlossen. Nun stand er mit schussbereiter Waffe in der Hand in der dämmrigen Diele und sah durch die halbgeöffnete Tür seine beiden Opfer ins Gespräch vertieft am Tisch sitzen. Der Moriske saß mit dem Rücken zur Diele und so vor dem Alten, dass er ihm die Sicht auf die Tür versperrte. Das war ein guter Anfang.
Vorsichtig trat Roberto näher an die Tür heran und versuchte, dabei möglichst kein Geräusch zu verursachen. Im selben Augenblick ließ ihn jedoch ein lautes, sehr bösartiges Knurren zusammenfahren. Sofort erkannte er im schwachen Licht, das durch den Türspalt hereinfiel, einen kleinen hässlichen Dämon, der sich ihm in den Weg zu stellen wagte.
Bei seinem Anblick schien es ihm, als hätte sich eines der in Stein gemeißelten Fabelwesen am Münster zu Fleisch
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