Wächter des Mythos (German Edition)
dieses Haus zu verlassen. Ich bin nun über 70 und fühle mich alt genug, um zu wissen, was richtig und was falsch ist.«
»Thomas von Aquin war einer der großen Philosophen und Theologen der Geschichte. Doch ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen über diesen Gelehrten zu sprechen, mich interessiert ein anderer Aspekt in Ihrem Zeitungsartikel.«
»Nun, dazu möchte ich gleich zu Beginn Folgendes klarstellen: Ich schrieb den Artikel im Zusammenhang mit Dan Browns Bestseller, der vor einiger Zeit im Zentrum einer öffentlichen Diskussion um Jesus und die Bibel stand. Ferner verstehe ich meinen Artikel als eine Möglichkeit, bestimmte Zusammenhänge in einem neuen Licht zu sehen. Doch ich kann und will Ihnen nichts über eine Blutlinie erzählen oder von dem Kelch, den Christus beim letzten Abendmahl mit seinen Jüngern benutzt und in dem Josef von Arimathäa das Blut Christi unter dessen Kreuz aufgefangen haben soll. So etwas lesen Sie doch besser in Browns Religionsthriller oder in dubios religiösen Texten nach, die den Gral als eine der zahlreichen mittelalterlichen Blut-Christus-Reliquien darstellen.«
»Ich erwarte nicht, dass Sie mir irgendwelche Geschichten erzählen. Lieber möchte ich Ihnen die Geschichte der als Ketzer gebrandmarkten Katharer, Templer und vor allem auch meiner Vorfahren, der Moriscos , erzählen, die unter der Inquisition gelitten haben.«
» Moriscos ? Nannte man Ihre Vorfahren etwa Morisken?
Die Gesichtszüge von Gabriel verhärteten sich, worauf er die Frage mit einem kurzen Nicken beantwortete.
»Wissen Sie, wie man das, was meinen Vorfahren geschehen ist, heute nennen würde? Völkermord! « Für einen kurzen Augenblick herrschte ein bedrücktes Schweigen.
»Ich kann verstehen, wie Ihnen zumute ist«, gab ihm Dr. Bernard mit leicht gesenkter Stimme zur Antwort, »doch der damalige Kampf gegen die Mauren war ein Kreuzzug gegen Andersgläubige.«
»Den Kampf gegen die Mauren kann man vielleicht so nennen. Aber waren die Morisken nach dem Sieg der ›Reconquista‹ etwa immer noch Andersgläubige ? Sie hatten ja überhaupt keine Wahl, andersgläubig zu sein. Entweder wurden sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder zwangskonvertiert und umgesiedelt. Meine Vorfahren lebten nach dem Verbannungsedikt von 1609 nur noch als Schatten ihrer kultivierten Vergangenheit. Sie hielten sich in abgelegenen Tälern verborgen, in Erdhäusern, wie sie heute noch in Reliegos bei Terradillos de los Templarios zu finden sind, oder in Dorfgemeinschaften, wo sie als Bedienstete für christliche Feudalherren schufteten und der Landwirtschaft nachgehen mussten.«
»Sie sprechen da ein sehr düsteres Kapitel der spanischen Geschichte an«, entgegnete ihm Dr. Bernard seufzend.
»Das sehen Sie richtig, denn meinen Vorfahren erging es genauso wie später den Katharern«, fuhr Gabriel fort. »Ihre Kultur wurde zerstört, ihre Bücher, Bibliotheken und Schriften beschlagnahmt und ohne Rücksicht auf ihren Inhalt verbrannt, da sie angeblich ›dem wahren Glauben entgegenstanden‹. Auf diese Weise sind über eine Million Bücher von unschätzbarem Wert aus allen Sparten der Wissenschaft und Kultur für immer vernichtet worden.«
»Ich kann Ihre Betroffenheit verstehen«, sagte Bernard leise, um seine Anteilnahme zum Ausdruck zu bringen, »doch wie kann ich Ihnen dabei helfen?«
»Um das Jahr 960 hatte die spanische Stadt Córdoba etwa 500.000 Einwohner, 600 Moscheen, 17 höhere Lehranstalten und Hochschulen mit Fakultäten der Medizin, Mathematik, Religion und über 20 öffentliche Bibliotheken! Córdoba war damals ein Ort hochkultivierter Sinnlichkeit und Geistigkeit, wo Christen selbst in höchsten Staatsämtern zu finden waren. In jener Zeit war die gesamte europäische Zivilisation nördlich der Pyrenäen unterentwickelt. Die europäischen Städte hatten ungepflasterte Straßen, kaum mehr als 5.000 Einwohner und weder Spitäler noch Schulen. Bücher waren so selten, dass sie in den Klöstern angekettet werden mussten, damit sie nicht gestohlen wurden.«
»Ich weiß, es war ein dunkles Zeitalter für Europa. In der Folge wurden Muslime und Nicht-Christen jedweder Provenienz leider dämonisiert und als ›Gläubige einer anderen Lehre‹ von der Kirche zu Todfeinden der Christen erklärt.«
»Richtig, Córdoba wurde für die Kirche zu einer ernsten Gefahr. Sie begann sich den Einflüssen dieser Kultur mit ihrer Kirchenpropaganda und Hetzerei entgegenzustellen, was ihr ja letztendlich auch gelang. Nach dem
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