Wächterin der Träume
betraf, waren meine eigenen Eltern schwach. Aber wenigstens waren sie füreinander da.
Noah nahm die beiden beiseite und redete mit gedämpfter Stimme auf sie ein. Amandas Mutter begann leise zu schluchzen. Ich wollte weder zusehen noch lauschen, aber es gab nicht viel, wo ich sonst hätte hinschauen können.
Widerstrebend drehte ich mich zu der Frau im Bett um, die mich so intensiv beobachtete, als wolle sie meinen Blick auf sich lenken. Vielleicht ging es ihr aber genauso wir mir, und auch sie mochte ihre Eltern nicht ansehen.
»Du kannst meinen Anblick nicht ertragen, stimmt’s?«, fragte sie heiser.
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht nur dein Anblick ist unerträglich, sondern vor allem das, was er dir angetan hat.« Sie hatte zumindest verdient, dass ich ihr gegenüber aufrichtig war.
Ihre Lippen bebten. »Ist es so schlimm?«
»Ich habe schon Schlimmeres gesehen«, log ich.
In diesem Augenblick verstummte Noah, und Amandas Eltern traten an ihr Bett – ihr Vater steif und unsicher, mit schmerzverzerrtem Gesicht, ihre Mutter gramgebeugt, doch entschlossen.
Noah und ich verließen den Raum. Ich wollte die Familie nicht stören, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich Noah in Gegenwart seiner Exschwiegereltern besonders wohl fühlte. Sie zeigten ziemlich deutlich, dass sie über seine Anwesenheit nicht allzu erfreut waren. Offenbar waren sie ebenso wenig davon angetan wie ich, dass Amanda ihn als Ersten benachrichtigt hatte.
Als wir über den Flur gingen, legte mir Noah die Hand in den Nacken, zog mich an sich und küsste meine Schläfe.
»Danke«, sagte er.
Beim Gehen stießen unsere Hüften aneinander. Ich blickte zu ihm hoch. »Wofür? Ich habe doch gar nichts getan.«
»Du warst für mich da, als ich dich brauchte«, erwiderte er mit leisem Lächeln. »Ich war sicher, du würdest mir helfen, wenn ich nicht mehr weitergewusst hätte.«
Es schmeichelte mir, dass er mich so schätzte. »Ich wünschte, ich könnte irgendetwas für sie tun«, sagte ich und meinte es auch so. Noah blieb stehen. Als ich ebenfalls haltmachte und mich fragend zu ihm umdrehte, umarmte er mich und gab mir einen Kuss, bei dem meine Lippen zu prickeln begannen und mein Herz heftig zu klopfen. »Wofür war der denn?«, fragte ich leicht benommen.
Er fuhr mit dem Daumen über meine Wange. »Weil du der tollste Mensch bist, den ich kenne.«
Das war vielleicht keine Liebeserklärung, aber es kam dem verdammt nahe.
Leider konnten wir nicht sofort in Noahs Wohnung zurückfahren, da uns im Krankenhaus noch Amandas Schwestern entgegenkamen. Noah musste auch ihnen berichten, was passiert war und wie es Amanda ging.
Ich vermochte Amandas Anblick einfach nicht zu vergessen. Ihre äußeren Verletzungen würden heilen. Was mir mehr Sorgen bereitete, waren die psychischen Schäden, die sie davontragen konnte.
Ich dachte kurz darüber nach, was ich an ihrer Stelle tun würde. Ich würde mich rächen wollen und versuchen, den Mistkerl über seine Träume aufzuspüren, um ihn für den Rest seines Lebens mit Alpträumen zu quälen.
Der letzte Mensch, dem ich etwas Ähnliches angetan hatte, war ein Mädchen in der Mittelstufe gewesen, damals in Toronto. Jackey Jenkins hatte mich beleidigt, woraufhin ich in ihre Träume eingriffen und ihr schlimmer weh getan hatte als beabsichtigt. Ich hatte mir geschworen, so etwas nie wieder zu tun, und mich bisher auch daran gehalten.
Noah und ich aßen eine Kleinigkeit in einer Imbissbude und sprachen ein bisschen über seinen Aufenthalt in L. A. Er war wegen der Ausstellung einiger seiner Bilder hingeflogen. Noah wirkte zufrieden, und ich freute mich für ihn.
Beim Kaffee redeten wir über unser Leben, als wenn nichts geschehen wäre, doch über uns hing eine dunkle Wolke – wie ein unsichtbarer Film, den Trauer und Tragik auf unserer Haut hinterließen.
Kurz bevor die Sonne aufging, erreichten wir Noahs Wohnung. Meine Tante Eos, die Göttin, die das Licht auf die Erde bringt, erleuchtete den Himmel mit einem graugoldenen Schimmer, der bald zu einem Feuerwerk aus Pink-, Orange-, Rot- und Gelbtönen werden würde. Ich, Dawn, die Morgenröte, war nach Eos’ Reich benannt, das sich wie ein Wunder am Horizont ausbreitete und Manhattan in ein zauberhaftes, beinahe überirdisches Licht tauchte – und darauf war ich stolz.
Manchmal komme ich selbst nur schlecht damit klar, dass ich kein richtiger Mensch bin. Noah hatte es gut aufgenommen, als er die Wahrheit über mich herausfand. Er
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