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Wahn

Wahn

Titel: Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Kessler
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Niederlage. Vor allem blieben zu meiner Verwunderung Dr. Meerkamps zynische Bemerkungen aus. Er schaute nur kurz hoch, murmelte »Hallo« und vertiefte sich in ein neu erschienenes Lexikon der Psychiatrie. Am Nachmittag begegneten wir uns auf dem Gang und er sagte: »Wissen Sie was, Herr Kollege? Mir ist folgende Idee gekommen: Meine Frau besucht heute Abend eine Fortbildung, und ich habe nichts vor. Wie wäre es, wenn wir heute Abend zusammen eine Kleinigkeit essen gehen würden? Ganz in der Nähe hier ist ein Italiener. Dann können wir den Fall Scholz ganz im Vertrauen noch einmal besprechen.« Natürlich wunderte mich diese Offerte sehr. Ich empfand sie jedoch als Friedensangebot. Außerdem war ich durch die Geschehnisse so sehr verunsichert, dass ich mich freute, mit jemandem reden zu können, der sich mit der Behandlung von Alkoholkranken besser auskannte als ich. Meerkamp machte mir bei Spagetti Bolognese und mehreren Gläsern Chianti auf sehr sachliche Art und Weise klar, dass die Behandlung von Alkoholabhängigen und generell die Suchttherapie ein Spezialgebiet in der Psychiatrie ist, bei dem sehr viel Erfahrung, Geduld und Kenntnisse notwendig sind. Ein Akutkrankenhaus, wie es unsere Klinik war, könne dies nicht leisten. Niemals dürfe ein Patient, der jahrelang eine schwere Sucht gehabt hatte, nach ein oder zwei Wochen bereits als geheilt angesehen werden. Dafür seien die Langzeittherapien da.
    Ich fragte zweifelnd: »Darf ich denn kein Mitleid mit den Patienten haben?«
    »Mitleid dürfen Sie schon haben, es darf nur nicht Ihr Hauptmotiv bei der Behandlung eines Patienten sein. Sie sind in erster Linie Arzt und müssen rational entscheiden.«
    Ich war sehr erstaunt über Meerkamps sachliche und konstruktive Art an diesem Abend. Dieses Gespräch hat mich noch lange Zeit stark beschäftigt. Einerseits akzeptierte ich zwar das, was der erfahrene Kollege zu sagen hatte, andererseits regte sich in meinem Inneren Widerstand. Diese Sichtweise des Arzt-Patienten-Verhältnisses war für mich viel zu sachlich und zu nüchtern.
    Die Jahre gingen ins Land, längst war ich Oberarzt an der Neurologischen Klinik eines norddeutschen Universitätsklinikums und das in Berlin Erlebte verblasste allmählich. Ich konnte mich kaum noch an meine Anfänge als Arzt und das Erlebnis meines frustrierenden Therapieversuchs an meiner ersten Patientin erinnern. Da erhielt ich acht Jahre später einen an meine Privatadresse gesendeten Brief. Der Absender lautete: »Brigitte Wenck geborene Scholz«. Ich las:
    »Sehr geehrter Herr Doktor,
    nach all den Jahren möchte ich Ihnen berichten, dass ich es geschafft habe. Sie waren der einzige Mensch, der an mich geglaubt hat. Ich werde niemals vergessen, wie Sie, als es mir nach dem tausendsten Rückfall so schlecht ging, meine Hand genommen haben und sie drückten. Ich habe sehr oft über Sie und unsere Gespräche nachgedacht. Das Wichtigste war, dass Sie immer an mich geglaubt haben, auch dann, als mich alle schon längst aufgegeben haben. Ich habe nach meinem Aufenthalt in der Bonhoeffer-Klinik eine Langzeittherapie gemacht und mit der Hilfe der Anonymen Alkoholiker bin ich bis heute trocken. Ich habe sogar geheiratet und wir haben eine gemeinsame Tochter, Caroline. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen,
    Ihre Brigitte Scholz (jetzt Wenck).«
    Im Umschlag steckte noch ein Foto, auf dem eine rundlich gewordene Frau Scholz mit einem Mann und einem etwa drei Jahre alten Mädchen auf einer südlichen Strandpromenade zu sehen war.

Christof Kessler, Jahrgang 1950, ist Spezialist für Hirnerkrankungen. Sein beruflicher Weg führte ihn nach Gießen, Berlin, Heidelberg, Köln und Lübeck. Seit 1992 ist er Professor für Neurologie und seit 1994 Direktor der Klinik für Neurologie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald. Sein Interesse gilt einer praktisch ausgerichteten, patientenorientierten Neurologie. Er organisierte Veranstaltungen zum Thema Neurologie und Literatur und war wissenschaftlicher Berater bei der szenischen Umsetzung der Opernadaption von Oliver Sacks’ »Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte«.

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