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Wahn

Wahn

Titel: Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Kessler
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Nazigrößen, darunter Hermann Göring, dort Patienten gewesen sein.
    Wir gingen gemeinsam in das erste Krankenzimmer. Im ersten Bett lag eine verwahrlost aussehende Patientin, penetrant nach Urin riechend, nicht ganz wach, am ganzen Körper zitternd, unverständliche Wörter vor sich hin stammelnd. Das Wochenende über hatte Dr. Meerkamp Dienst gehabt. Er berichtete: »Frau Brigitte Scholz, dreißigjährige Patientin, bekannter chronischer Alkoholismus, diverse Aufenthalte sowohl bei uns als auch in anderen Psychiatrien der Stadt, unter anderem gescheiterte Langzeitentwöhnung in Bonnies Ranch.« Mit Bonnies Ranch war die Berliner Bonhoeffer-Klinik, ehemals Wittenauer Heilstätten, eine riesige psychiatrische Einrichtung im Norden der Stadt, gemeint. »Aktuell wegen eines grippalen Infektes reduzierter Alkoholkonsum, epileptischer Anfall mit Zungenbiss aufgrund des Alkoholentzugs und Delirium tremens mit Halluzinationen. Die Patientin ist in einem schlechten körperlichen Zustand, verwahrlost und unterernährt.« Er nahm einen Spatel und führte ihn in den Mund der vor sich hin brabbelnden Patientin ein. Es kam eine monströs geschwollene, blau angelaufene und mit geronnenem Blut belegte Zunge zu Tage.
    »Wo bin ich hier gelandet?«, fragte ich mich insgeheim. Nach meinem Staatsexamen hatte ich fast drei Jahre friedlich in einem Labor geforscht und nichts, aber auch gar nichts mit Patienten zu tun gehabt. Ab und an hatte ich Dienst in der Blutbank und hatte dabei geholfen, gesunden und meist gut gelaunten Blutspendern Blut abzunehmen und Blutkonserven herzustellen.
    »Außerdem diverse Alkoholfolgekrankheiten, beginnende Leberzirrhose, Hirnabbau, toxische Schädigung des peripheren Nervensystems. Die Prognose ist sehr schlecht, da schon mehrere Entzugskuren misslungen sind.«
    »Wir behalten sie hier und schauen, was mit ihr wird«, sagte Dr. Augustin und schaute zu mir hoch. »Ich schlage vor, Herr Kollege, dass Sie sich um die Patientin kümmern. Nehmen Sie die Patientin auf, den Therapieplan können wir dann gemeinsam besprechen.«
    Ich nickte stumm, dachte jedoch: »Nein! Alles, nur nicht das! Warum muss gerade meine allererste neurologische Patientin solch ein hoffnungsloser Fall sein?«
    Dr. Meerkamp lachte fröhlich auf. »Ausgezeichnete Idee! Der neue Kollege wird das schon hinkriegen.«
    Als wir gerade dabei waren, das Krankenzimmer zu verlassen, fasste die Patientin plötzlich meine Hand. Ich fühlte unangenehm die Klebrigkeit des kalten Schweißes und das unregelmäßige Zittern.
    »Sie werden mir helfen«, murmelte sie.
    Alle schauten verwundert auf die Patientin.
    »So sehr bewusstseinsgetrübt ist sie ja gar nicht«, stellte Dr. Augustin fest. Dann setzten wir die Runde über die Station fort.
    Am Ende der Visite wurde ich im Schwesternzimmer der Stationsschwester vorgestellt, Schwester Gerda, circa fünfzig Jahre alt, tiefschwarz gefärbtes Haar, rundes Gesicht und breite Hüften. Sie gab mir die Hand, lächelte und sagte: »Willkommen auf der Station; wenn Sie Fragen haben, Herr Doktor, können Sie sich jederzeit an mich wenden.« Und dann leise, nicht für die anderen bestimmt: »Ich habe gehört, dass Sie sich um die Scholz kümmern sollen, so schlecht ist die nicht. Wenn die anderen weg sind, gehen wir mal zusammen hin.«
    Nach der Visite tranken die Ärzte mit den Schwestern in der Stationsküche Kaffee, dabei wurde wenig über Privates gesprochen, sondern vorwiegend über dienstliche Probleme, unter anderem auch über die Neuaufnahmen vom Wochenende – eine inoffizielle Arbeitsbesprechung.
    »So, und jetzt an die Arbeit«, sagte schließlich Frau Dr. Augustin, und alle tranken ihre Tassen leer und gingen in verschiedene Richtungen auseinander.
    »Kommen Sie, wir gehen zu Frau Scholz, Sie sollen sie ja aufnehmen«, sagte Schwester Gerda, und kurze Zeit später stand ich gemeinsam mit ihr am Bett der Patientin. Das Zittern hatte zugenommen. Die Patientin nahm ihre Umgebung nur unvollständig wahr und schien sich flüsternd mit jemandem zu unterhalten, den aber nur sie sehen konnte.
    »Sie ist im Delir«, sagte Gerda, »am besten, Sie verordnen Distraneurin. Wir haben da ein festes Schema, es müssen dabei immer Blutdruckkontrollen angesetzt werden. Viel mit ihr reden kann man jetzt nicht. Wenn sie klarer ist, rufe ich Sie, dann können Sie die Krankengeschichte aufnehmen. Bis dahin suche ich Ihnen die Akte raus.«
    Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen im Delir sah. Diesen Zustand

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