Walkueren
die sie spürte. Sie öffnete die Augen und ahnte, dass seine Hand sich ihr näherte. Sie traute sich nicht, den Kopf zu bewegen. Erst als seine Hand langsam in ihren Blickwinkel kam, sah Elín etwas aufleuchten.
Oh Gott, lieber Gott, er wird mir doch jetzt nicht die Kehle … Vater unser, der du bist im Himmel!
Sie stand steif wie ein Brett und starrte nach unten, ohne den Kopf zu bewegen. Er hielt einen Löffel in der Hand. Einen versilberten Weihnachtslöffel. Sie wollte in ihrer Erleichterung gerade die Jahreszahl auf dem Löffel lesen, als Eysteinn befahl:
»Du ziehst das hier durch die Nase.« Eine Sekunde lang tauchte der Löffel vor ihren Augen auf. Ein Pulver war darauf. Hellbraun. Oder dunkelgelb?
Er presste den Löffel unter ihre Nasenlöcher.
Einen Augenblick dachte sie daran, durch die Nase auszuatmen, aber da drückte Eysteinn die Pistole fester in ihren Rücken. Sie zog kräftig die Nase hoch und schnappte dann nach Luft.
»Ja, gut so«, sagte er. »Und noch mal.«
Sie zog wieder die Nase hoch und versuchte, den Geruch des Pulvers zu erkennen, aber sie roch nichts. Sie spürte nur, wie sich ihr Körper entspannte, wie die Angst in ihrer Brust nachließ. Ein wohliges Gefühl durchströmte sie.
Oh Gott, hab Dank, hab Dank, dass ich nicht tot bin, dass ich noch nicht einmal Angst habe.
Eysteinn stieß sie zur Tür, und sie stolperte vor ihm her zurück ins Schlafzimmer. Víkingur lag auf dem Boden, regte sich aber schon wieder.
Eysteinn hockte sich nieder, bettete Víkingurs Kopf in seinen Schoß, legte die Pistole neben sich auf den Boden und streute mit der freien Hand Pulver in Víkingurs Nasenlöcher. Das Burandanga-Wunderpulver löst alle Probleme, dachte er, eine Fernsehwerbung vor Augen.
Elín stand in einiger Entfernung und schaute zu.
Als sie sah, wie Eysteinn Víkingurs Kopf hielt und das Pulver in seine Nasenlöcher schob, wurde sie von einem überwältigenden Gefühl der Liebe zu allem und jedem ergriffen. Auch zu Eysteinn.
Sie hatte diesem Mann Schaden zufügen wollen. Aber er war gekommen und hatte ihnen Liebe gebracht.
51
Plan A und Plan B
Eysteinn ließ sich keine Zeit, seinem misslungenen Plan nachzutrauern. Denn: Plan A war völlig vermasselt.
Blieb nur Plan B.
Das Manuskript befand sich in seiner Obhut. Geld war auf seinem Konto eingegangen, mehr Geld war zu erwarten.
Plan B hieß: Untertauchen.
Dafür gab es zwei Möglichkeiten:
Entweder: Sich sofort nach Keflavík begeben und die erstbeste Maschine ins Ausland nehmen.
Oder: In Island als Ausländer untertauchen, in aller Ruhe in irgendeinem Gästehaus einchecken, mit dem Fotoapparat in der Stadt umherschlendern und das Land erst verlassen, wenn der größte Aufruhr überstanden war. Er besaß – zusätzlich zu seinem eigenen – zwei Pässe und konnte zwischen dem estnischen Koch Andrus Rahula aus Kuressaare auf der Insel Saaremaa und dem Schweizer Hundetrainer Johann Albert Zaugg aus Kloten in der Nähe von Zürich wählen.
Tief im Inneren hatte er schon immer gewusst, dass es notwendig werden könnte, unterzutauchen. Aber er hatte nie einen genauen Plan gehabt. Alles war wie von selbst gelaufen: Leiter der Sicherheitsabteilung der Landespolizeibehörde. Diese Abteilung hätte viel mächtiger werden können als die Landespolizeibehörde selbst. Ihr wurden keine Grenzen gesetzt. Es war alles nach Wunsch verlaufen. Alles war darauf hinausgelaufen, dass er Leiter des isländischen Geheimdienstes werden und seinen Verdienst und seine Macht vergrößern könnte. Aber dann hatte er dieses abgeschmackte Weibermanuskript unterschlagen. Was einen lehrte, dass man langfristige Interessen nicht dem schnellen Geld opfern sollte.
Obwohl?
Er hatte dieses bescheuerte Polizeispiel satt, diese scheinheiligen Erklärungen am Rande der Legalität, obwohl man sich schon längst jenseits davon befand; dieses ständige Herumreiten auf der Notwendigkeit, die innere Sicherheit zu schützen, obwohl es doch nur um die reine Willkürherrschaft ging und darum, sich an den Spielregeln der Demokratie vorbeizulavieren; diese Duckmäuserei vor den geistigen Krüppeln auf den Ministerstühlen. Er durchschaute die ganze Scheinheiligkeit, und als er die Eintönigkeit dieses Spiels satthatte, spielte er eine unerwartete Karte aus.
Und es gab Tumult im Hühnerstall.
Eigentlich war er in vielerlei Hinsicht gut mit Freyja ausgekommen. Sie war weder konservativ noch langweilig. Nur begrenzt. Glaubte an gewisse Grenzen. Gewisse Schranken in der
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