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Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Titel: Walled Orchard 01: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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einfach die von ihm transportierte Leiche ins Feuer und verschwand so schnell, wie er konnte.
    Andere gruben, ohne mit der Wimper zu zucken, flache Furchen in die Straßen, in die sie ihre Toten legten. Diese Gräber bereiteten später noch eine Menge Scherereien, als einige Leute die Furchen wieder aufrissen, um sich die Münzen anzueignen, die die Verwandten den Leichen für den Fährmann in den Mund gesteckt hatten. Dadurch wäre die Pest beinahe ein zweites Mal mit aller Gewalt ausgebrochen. Es gab aber auch Menschen, die ihre Leichen kurzerhand in die Trinkwasserbehälter und Zisternen warfen, teils, weil sie glaubten, das Wasser werde die Seuche wegwaschen, aber in erster Linie, weil den meisten mittlerweile sowieso alles egal war. Nur ein Vollidiot ließ noch die Tür seines Stalls und erst recht die seines Hauses offenstehen, weil er sonst sicher sein konnte, bei seiner Rückkehr zwei oder drei Leichen vorzufinden, ordentlich gestapelt wie ein Holzstoß. Bei diesen ganzen Vorgängen auf Athens Straßen bekam man wirklich den Eindruck, eine Räuberbande zu beobachten, die beim Eintreffen der Polizei verzweifelt ihr Diebesgut loszuwerden versucht.
    Natürlich wäre ich gern stehengeblieben, um dieses Treiben genauer zu verfolgen, denn ich spürte, daß sich daraus eine unglaubliche Dichtung machen ließe, falls ich jemals vorhaben sollte, mich an einer Tragödie oder einem Epos zu versuchen. Zum Beispiel hätte ich meine Beobachtungen am Anfang eines Werks über Ödipus 57
    verwenden können, indem ich die Seuche im griechischen Lager vor Troja oder die Pestilenz in Theben beschrieben hätte. Aber Kallikrates hatte es sich in den Kopf gesetzt, so schnell wie möglich von hier wegzukommen, und in seiner Eile kugelte er mir fast die Arme aus.
    »Hör doch um Himmels willen auf, so herumzutrödeln!«
    flehte er mich mehrmals an. »Möglicherweise bist du ja immun gegen die Pest bist, aber ich doch nicht!«
    Aus diesem Grund mußte ich leider die ganzen phantastischen Einzelheiten ungenutzt hinter mir lassen und mich meinem Vetter an die Fersen heften, wie ein Hund, der zwar die Hasen im Kornfeld riecht, aber seinem Herrn zu folgen hat. Schließlich erreichten wir Philodemos’ Haus, das glücklicherweise nicht von der Pest befallen war. Bevor ich fest einschlief, schaffte ich es gerade noch, eine große Schüssel Haferbrei mit Wurstscheiben und einen Becher Wein mit Honig zu mir zu nehmen.
    Offenbar schlief ich fast einen Tag und eine Nacht lang, und in der Zwischenzeit nahmen Philodemos und Kallikrates den Karren, holten die Toten aus dem Haus meines Großvaters und äscherten sie in allen Ehren ein.
    Natürlich hatte sich der Körper meines Großvaters ganz mit dem Wasser im Trog vollgesogen und wollte einfach nicht brennen. Deshalb mußten ihn mein Onkel und mein Vetter wie Ziegenfleisch, das für den Transport präpariert wird, zum Trocknen in die Sonne legen; aber davon haben sie mir erst einige Jahre später erzählt. Trotzdem vollzogen sie irgendwann alle gebotenen Bestattungsriten, mischten die Asche jedes Körpers mit Milch, Wein und Honig und 58
    bestatteten sie mit den geeigneten Beschwörungsformeln in einer Urne. Dafür bin ich den beiden bis heute außerordentlich dankbar, denn genaugenommen wäre das eigentlich meine Aufgabe gewesen. Als Philodemos und Kallikrates zurückkehrten, wuschen sie sich sehr gründlich und verbrannten sogar die Kleider, die sie beim Umgang mit den Leichen getragen hatten. Philodemos hatte es sich nämlich in den Kopf gesetzt, daß die Pest irgendwie mit dem ganzen Schmutz und Dreck in Zusammenhang stand, die das enge Zusammenleben fast der gesamten Bevölkerung Attikas, die in den Stadtmauern von Athen zusammengepfercht war, mit sich brachte. Aber mein Onkel hatte schon immer einen Sauberkeitsfimmel, der sogar so weit ging, daß er sämtlichen Hausmüll in Gefäße füllte, die er erst in der nächsten Straße auskippte.
    Auf diese Weise kam ich also ins Haus von Philodemos und Kallikrates, was meiner Ansicht nach der größte persönliche Nutzen war, den ich aus der Pest zog. Ich sage bewußt ›der größte‹, denn da so viele meiner Angehörigen gestorben waren, erbte ich natürlich einen riesigen Besitz.
    Letzten Endes entspricht die Redensart ›Der Mensch vergeht, aber das Land besteht‹ doch der Wahrheit, und damals wurde den Leuten gerade erst bewußt, daß man Land kaufen und verkaufen kann. Jedenfalls erbte ich wegen der hohen Sterblichkeit unter meinen

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