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Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Titel: Walled Orchard 01: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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um mich nach dem Befinden seiner Schwester zu erkundigen.«
    »Tut mir wirklich leid, aber die ist auch an der Pest gestorben«, erwiderte ich mit sanfter Stimme, weil ich merkte, daß ihm das Entsetzen beim Anblick meines Großvaters ziemlich zugesetzt hatte, und ich ihm jeden weiteren Kummer ersparen wollte. Er war ja nur ein Sterblicher, und die Nachricht vom Tod meiner Mutter ging ihm womöglich recht nahe. »Aber wenigstens ist sie an ihrem Spinnrad gestorben, und ich bin mir sicher, der Fährmann setzt sie umsonst über, weil sie sowohl väterlicher – als auch mütterlicherseits Athenerin ist. Hast du noch ein bißchen Wasser in deiner Flasche? Ich habe nämlich schrecklichen Durst, will aber das Wasser aus dem Trog nicht trinken.«
    Kallikrates reichte mir die Flasche, die ich leider in einem Zug austrank, ohne daran zu denken, wo wir noch frisches Wasser herbekommen könnten. Doch mein Vetter sagte keinen Ton, obwohl ich mir sicher bin, daß auch er Durst hatte. Dann öffnete er seinen Tornister und reichte mir ein Stück Weizenbrot, das ganz weiß und noch ziemlich frisch war und mir so gut wie Kuchen schmeckte.
    Kallikrates lächelte, als er sah, mit welcher Freude ich das Brot aß. Er erzählte mir, daß man dort, wo er gewesen 54
    sei, Weißbrot als Selbstverständlichkeit betrachte und importierten Wein aus Judäa trinke.
    Ich hoffe, ich habe bei Ihnen nicht den Eindruck erweckt, daß mein Vetter ein Feigling war, denn das war er keinesfalls; so faßte er ausschließlich mir zuliebe den Entschluß, ins Haus zu gehen, was sich nur sehr wenige Menschen getraut hätten. Ihm war nämlich klar, daß jemand vor Gericht beweiskräftig aussagen müßte, auf welche Weise die Hausbewohner ums Leben gekommen waren, falls es zu einem Prozeß um den Besitz meines Großvaters gekommen wäre, denn ich war noch zu jung, um einen Eid abzulegen. Also zog er sich den Umhang noch fester vors Gesicht, holte tief Luft und stürzte ins Haus. Mich wollte er nicht mitnehmen, und darüber war ich insgeheim erleichtert, denn ich hatte nicht mehr das Gefühl, noch irgend etwas mit den Menschen im Haus zu tun zu haben. Kallikrates blieb ungefähr fünf Minuten im Gebäude, und als er wieder herauskam, zitterte er am ganzen Körper, als wäre er, mit nichts als einem Chiton bekleidet, durch den dichtesten Schnee gelaufen.
    »Also gut, ich habe jetzt alles gesehen, was ich wissen muß«, keuchte er. »Laß uns zum Haus meines Vaters gehen.«
    Das hörte sich nach einem ausgezeichneten Vorschlag an, zumal ich Philodemos sehr gern hatte. Vielleicht erinnern Sie sich noch daran, daß Philodemos derjenige war, der für mich das Treffen mit Kratinos arrangiert hatte.
    Zudem kannte er eine Menge Leute und zitierte ständig aus allen möglichen Theaterstücken. Er war ein fröhlicher kleiner Mann, und ein Zusammenleben mit ihm hielt ich 55
    für sehr viel lustiger als mit meinem Großvater, der mich eigentlich nie richtig gemocht hatte.
    »Kallikrates, mußtest du da wirklich unbedingt reingehen?« fragte ich meinen Vetter.
    »Ja, das habe ich dir doch schon erklärt«, antwortete er.
    »Meinst du denn, daß es wirklich zu einem Prozeß kommt? Ich habe immer gedacht, so was findet nur dann statt, wenn jemand etwas angestellt hat, also irgendwo was geklaut hat oder so.«
    Kallikrates grinste, und der Umhang fiel ihm vom Gesicht. »Da wär ich mir an deiner Stelle nicht so sicher«, erwiderte er. Und wie sich herausstellte, sollte er damit recht behalten. Es kam zu einem gepfefferten Prozeß, den wir aufgrund irgendeiner Rechtsvermutung prompt verloren hätten, wäre Kallikrates damals nicht ins Haus gegangen.
    Selbst wenn ich meinen Namen und Wohnort vergessen sollte, der nun folgende Marsch durch die Stadt hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Wo wir auch hinkamen, entweder waren die Straßen völlig ausgestorben oder es herrschte geradezu verzweifelte Geschäftigkeit. Alle Menschen, die uns über den Weg liefen, schienen Leichen dabei zu haben: Leichen in Handwagen, auf dem Rücken von Maultieren oder wie Säcke über die Schultern geworfen, so daß es so aussah, als hätte man die Traubenernte vom Weinberg zur Weitervera-rbeitung heruntergebracht. Einige Leute brachten die Leichen zur ordnungsgemäßen Verbrennung (denn es gab nirgends mehr Platz, um Tote zu begraben, nicht einmal für 56
    Kleinkinder), aber sie mußten sich beeilen. Sah nämlich jemand einen brennenden und unbeobachteten Scheiter-haufen, dann warf er

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