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Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Titel: Walled Orchard 01: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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Verwandten (von den meisten hatte ich zugegebenermaßen noch nie etwas gehört) eine beachtliche Menge Land.
    Natürlich gab es vorher endlose Prozesse. Rechtsstreitig-keiten waren nämlich so ziemlich die einzige menschliche Tätigkeit, die nicht durch die Pest unterbrochen wurden.
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    Bei der Unzahl von Todesfällen waren die Nachlaßgerichte wirklich fast genauso beschäftigt wie die Gerichte für politische Delikte und Landesverrat, und obendrein schienen die prozeßführenden Parteien nie krank zu werden. Einige von diesen Leuten waren zwar Überlebende wie ich selbst, die auf Familiengüter Anspruch erhoben, aber auch die anderen bekamen nie die Pest, zumindest nicht, solange ihr Fall noch zur Verhandlung stand. Nach Kratinos’ Ansicht hatte die Seuche aufgrund der heißen Luft und der Knoblauchausdünstungen, die im Gerichtssaal freigesetzt wurden, keine Chance. Wie er weiterhin ausführte, habe es Hermes zudem überhaupt nicht eilig, seinen schönen, ordentlichen Palast mit lärmenden, prozeßführenden Athenern vollzustopfen, die nichts anderes im Sinn hätten, als durcheinanderzuschreien und sich gegenseitig zu beschimpfen. Der Götterbote ziehe es nämlich vor, ruhige und anständige Menschen zu nehmen, die seinem Haus alle Ehre machten. Kratinos selbst besuchte überall in der Stadt kranke Freunde, half ihnen, durch Lachen die letzten qualvollen Stadien der Krankheit zu überstehen, und begrub sie, wenn selbst seine Scherze sie nicht mehr am Leben halten konnten. Zwar behauptete er stets, er verdanke seine anhaltende Gesundheit der vorbeugenden Wirkung billigen Weins, aber ich halte mich lieber an den Glauben, daß auch er unter dem Schutz von Dionysos stand.
    Meine Prozesse führte allesamt Philodemos für mich, und obwohl wir einige Güter verloren, die wir besser behalten hätten – ich traure besonders den zehn Morgen Weinland in der Ebene bei Eleusis nach –, blieb mir am 60
    Ende ein persönlicher Besitz von nicht weniger als einhundert Morgen. Über die Hälfte dieser Fläche bestand jedoch aus Hügelland und war von daher lediglich für landschaftliche Zwecke zu gebrauchen. Zudem war anscheinend keiner meiner Verwandten irgendwann einmal dazu gekommen, alle die Steine aufzusammeln, obwohl der Boden bereits in den Besitz der Familie gelangt war, als Theseus noch in den Windeln gelegen hatte. Kurz und gut, mein Landbesitz war nicht annähernd so eindrucksvoll, wie man bei einer solch großen Fläche annehmen möchte. Aber dennoch war der Ertrag aus diesem Boden hoch genug, in die Steuer- oder Zensusklasse der ›Reiter‹ eingestuft zu werden. »Doch selbst im Fall einer schlechten Ernte bleibt dir wenigstens noch etwas zum Leben übrig«, wie es Philodemos formulierte. Mein Onkel war für einen Athener ein beinahe überirdisch ehrlicher Mann, und als ich alt genug war, um selbst Verantwortung zu übernehmen, übergab er mir bis auf ein paar Felder in Phyle und den Anteil meines Großvaters an den Silbergruben meinen gesamten Besitz mitsamt einem schriftlichen Bericht und einer Aufstellung der Kosten für Instandhaltung und Ausbesserungen, um seine bisherige Verwendung der Einkünfte zu rechtfertigen. Obwohl mein Onkel zur Zeit der Pest finanziell mehr schlecht als recht zurechtkam, zahlte er meinen Unterhalt, solange ich im Haus lebte, voll und ganz aus eigener Tasche, als wäre ich sein eigener Sohn gewesen. Deshalb habe ich es auch nie übers Herz gebracht, ihn auf Rückgabe der Silbergrubenanteile zu verklagen.
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    In den nächsten beiden Jahren wütete die Pest unverdrossen weiter, und gelehrte Männer (wie der kleine Feldherr) berichten, sie habe ein Drittel der männlichen Bevölkerung dahingerafft. Sie breitete sich von der Stadt bis zu unseren Männern beim Heer und bei der Flotte aus, aber irgendwie haben wir es nie geschafft, auch die Spartaner mit dieser Seuche anzustecken. Jedenfalls bereitete sie dem Krieg fast ein vorzeitiges Ende. Die Menschen in der Stadt fanden sich nach einer Weile mit der Pest ab – es ist schon beachtlich, was sich Stadtbewohner gefallen lassen, solange sie glauben, daß es allen anderen genauso dreckig geht wie ihnen selbst – und setzten ihr Leben so gut wie möglich fort. Man veränderte ein wenig die wirtschaftlichen Strukturen der Stadt und paßte sich den veränderten Lebensbedingungen an. So wandten sich die Menschen fast ganz von der Landwirtschaft ab und spezialisierten sich immer mehr auf städtische Gewerbezweige – man verdingte sich zum

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