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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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noch zweimal »Ja, gut« und legte auf. »Du kannst jetzt zurück in die Klasse gehen.« Wie, dachte ich, das soll es schon gewesen sein? Halb aus der Tür getreten, drehte ich mich wieder um: »Soll ich denn den Polizisten nicht die Stelle zeigen, wo er liegt?« »Wenn es ihn gibt, werden sie ihn schon finden. Geh jetzt. Und Grüße an deinen Vater.« »Mach ich.«
    Auf dem Rückweg in meine Klasse kam mir plötzlich die Idee, aus der Schule heraus zum Gartentor zu rennen und der Polizei zuvorzukommen, um nachzusehen, ob er noch da war. Aber in diesem Moment klingelte es, die Schüler strömten aus den wild aufgestoßenen Türen, und meine Überlegung ging im allgemeinen Trubel unter. Mitschüler umringten mich, löcherten mich mit Fragen nach dem Rentner, und anfangs gelang es mir sogar noch, die ganze Sache wahrheitsgetreu zu erzählen. Aber bald schon war es einfach zu verlockend, durch kleine Ausschmückungen meine Fragesteller und Zuhörer, darunter auch mehrere Mädchen, weiter in meinen Bann zu schlagen. Auf die Frage »Hast du sein Gesicht gesehen?« hatte ich zuerst immer mit einem klaren Nein geantwortet. Doch dann, beim dritten oder vierten »Bist du sicher, dass du nicht mehr gesehen hast?«, antwortete ich: »Vielleicht doch ein wenig. Die Nase.« »Aber wenn du seine Nase gesehen hast, musst du doch auch ein Auge gesehen haben?« »Hab ich ja auch. Die Nase und das eine Auge.« »War es auf oder zu?« »Es war ….«, ich wurde sehr leise, »… auf.« Meine Frager hatten solch eine Sehnsucht nach dem Gesicht des Verblichenen, dass sie ihn durch die Intensität ihrer Fragen nach und nach auf den Rücken drehten. Ich wollte sie nicht enttäuschen. Von Pause zu Pause wurde mein Toter gruseliger. Gegen zehn Uhr starrten seine geöffneten Augen in den Himmel, gegen zwölf Uhr hing aus dem zahnlosen Rentnermund bereits eine weißliche Zunge heraus, und der Beginn der letzten Schulstunde verhinderte nur knapp, dass ihm ein schwarz schillernder Käfer in den Schlund krabbelte.
    Nach Schulschluss – in keiner Unterrichtsstunde hatte ich an diesem Vormittag auch nur das Geringste mitbekommen, da ich besessen an den Details feilte – durchbrach ich schließlich auch noch den letzten Wahrheitswall. Von einem ganzen Pulk umringt, fabulierte ich mich auf dem Pausenhof um Kopf und Kragen. Der Klassenprimus, der oft tagelang fehlte, da er an Schachturnieren in beiden Teilen Deutschlands teilnahm, und mich sonst keines Blickes würdigte, fragte: »Und du bist dir zu hundert Prozent sicher, dass er nicht mehr gelebt hat?« »Ja, eigentlich schon, obwohl …« Ich sah nachdenklich in die gebannt an meinen Lippen hängende Runde, tat plötzlich überrascht, so als würde mir ein bisher entgangenes Puzzleteil der Geschichte wieder einfallen: »Obwohl, wenn du mich so fragst … Zwei Finger der … warte mal … ja, der linken Hand haben sich unter den Blumen bewegt.« »Unter den Blumen? Wie konntest du das denn dann sehen?«, warf sein vom Schachspielen bis zum Anschlag auf Logik trainiertes Hirn ein. »Na ja«, sagte ich, überwältigt von der Aufmerksamkeit, die mir zuteilwurde, die Spannung genießend, »seine beiden Finger sind ganz langsam, wie Würmer aus der Erde, durch das Blumengestrüpp hindurch an die Oberfläche gekrabbelt.«
    Die Reaktionen meiner Familie auf meinen Toten waren ganz unterschiedlich. Meine Mutter drückte mich an sich und tröstete mich: »Du Armer, ist wirklich alles in Ordnung mit dir? Das klingt ja schrecklich.« Mein psychologisch geschulter Vater sprach mit mir über die Vergänglichkeit des Lebens, rückte meinen Fund in einen allumfassenden Kontext und klärte mich über die Todesart des Rentners auf: »Das klingt ganz nach einem Herzinfarkt. Er wird nicht gelitten haben. Eigentlich ein guter Tod. Morgens beim Blumenpflücken.« Danach, was ich trotz seines Verbotes überhaupt in den Schrebergärten zu suchen hatte, fragte er zu meiner Erleichterung nicht.
    Meine beiden älteren Brüder glaubten mir kein Wort, obwohl ich zur ursprünglichen Fassung meiner Leichenfunderzählung – so gut ich mich nach all den Ausschmückungen überhaupt noch an sie erinnern konnte – zurückgekehrt war. Erst nachdem ich einen meiner Tobsuchtsanfälle bekommen hatte, bitterlich weinte und schluchzte »Warum glaubt ihr mir nicht? Ich schwöre es, bei allem was mir heilig ist, ich schwöre es bei meinem Leben: Ich hab einen Toten gefunden!«, trat allmählich Bewunderung anstelle ihres Skeptizismus.

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