Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
offenhalten wollte, sprach sie ein umarmendes, alle Last von den Schultern nehmendes »Komm, sag schon: Was ist wirklich passiert?«. Ich war noch außer Atem von meinem rasanten Lauf, oder richtiger, die Atemlosigkeit brach überhaupt erst jetzt aus, da ich in aller Ruhe antworten sollte.
»Ich hab was gefunden.« »Und was, bitte?« Ich schnappte nach Luft: »Einen Toten!« »Einen Toten?« »Ja.« »Und wo?« »Bei den Schrebergärten.« Noch nie, während keiner Unterrichtsstunde, ja selbst wenn der zum Schlüsselbundwerfen neigende, im Krieg durch einen Kopfschuss schwer verwundete Direktor einen erkrankten Lehrer bei uns vertrat, war es so totenstill im Klassenraum gewesen.
Je mehr ich bedrängt wurde, desto unsicherer wurde ich. Auf meinem Toten zu beharren schien plötzlich viel schwerer zu sein, als ihrer Ungläubigkeit nachzugeben und allem einfach abzuschwören, »Sie haben vollkommen recht. Entschuldigen Sie bitte« zu sagen oder »Ich glaube, ich hab mich getäuscht. Da war doch nichts. Eine Hose, ja eine Hose vielleicht, eine umgekippte Vogelscheuche. Genau, das war’s. Es tut mir so leid, dass ich zu spät gekommen bin. Es war eine Ausrede. Ich habe gar nichts gefunden und ganz sicher keinen Toten«.
Aber so leicht gab ich mich nicht geschlagen, auch wenn sie jetzt den Druck erhöhte: »Wenn das stimmt, was du da sagst, dann muss ich die Polizei rufen. Die gehen dahin, und wenn dann da nichts ist, dann – und das verspreche ich dir – bekommst du einen Heidenärger.« Oh nein, Polizei, dachte ich, was tun? Vielleicht hatte ich mich ja wirklich getäuscht, war er doch nur bewusstlos gewesen oder hatte etwas in den Blumen gesucht. Vielleicht, dachte ich verzweifelt, ist er schon längst wieder aufgestanden, hat sich seinen Schuh angezogen, die Blumen aufgerichtet, die Haare gekämmt und sich in einen Liegestuhl vor sein adrettes Häuschen gesetzt. Der Polizist würde an sein Gartentörchen treten, stellte ich mir vor, und ihn begrüßen: »Guten Tag, entschuldigen Sie die Störung, haben Sie hier irgendwo einen Toten gesehen?« »Einen Toten? Nein, Herr Wachtmeister, also ganz sicher nicht.« »Ein kleiner Junge hat behauptet, hier läge einer.« »Also so einen Quatsch hab ich ja schon lange nicht mehr gehört. In meinem Garten? Ein Toter? Das wüsste ich aber. Was sich diese Knirpse so alles ausdenken, was?« »Da haben Sie allerdings recht. Schönen Tag noch.«
Was sollte ich nur tun? Alle sahen mich an. Selbst die im Werkunterricht gefertigten Knetgummidinosaurier auf den Fensterbänken schienen mich skeptisch anzuglotzen. Aber es war doch wahr, wahr, wahr! »Ja«, sprach ich, »ich habe ihn gesehen. Im Gras. Er war tot!« »Gut.« Sie nickte. »Bleibt bitte alle – und wenn ich alle sage, meine ich alle – im Klassenzimmer auf euren Stühlen sitzen, ich bin gleich wieder da.«
Sobald sie aus der Tür war, kamen alle, aber wirklich alle zu mir gerannt. »Echt?« »Wo denn?« »Wie sah der aus?« »War der schon verfault?« Ich lehnte mich zurück und gab Antwort: »Nee, kein bisschen.« »Woher wusstest du, dass er tot war?« »Das sah man.« »Ey, wenn der noch gelebt hat?« »Vielleicht ein Mord?« »Hast du Blut gesehen?« Ich war kurz davor, der Versuchung nachzugeben und ein ganz klein bisschen Blut an seinem Hinterkopf entdeckt zu haben. Ich sah es genau vor mir. »Mord wäre natürlich schon möglich«, sagte ich, »an seinem … Nein, also Blut habe ich nicht gesehen.«
Die Lehrerin kam zurück, und die Schüler spurteten auf ihre Plätze. Sie stellte sich hinter ihr Pult, hob Schweigen gebietend die Hände und rief: »Du sollst zum Direktor kommen.« Ich stand auf und ging zur Klassenzimmertür. Sie kam zu mir, legte mir ihre Hand auf den Rücken, deren Wärme augenblicklich durch meinen Pullover drang, mir wie eine heiße Ermahnung in die Haut hineinglühte, und warnte mich flüsternd, in einem unbehaglichen Tonfall, sodass es die anderen Schüler nicht hören konnten: »Noch kannst du mir die Wahrheit sagen. Du weißt, der Direktor hasst es, wenn er angelogen wird. Also, du bist dir ganz sicher?«
Ihr Vertrauen in mich stand auch deshalb auf tönernen Füßen, da sie mich erst kürzlich einer Lüge überführt hatte. Keine große Sache, wie ich fand. Auf dem Schulhof hatten sich zwei Jungs geprügelt. Noch nie hatte ich eine Schlägerei gesehen, aber um die Kämpfenden hatte sich eine dichte Traube von Kindern gebildet. Ich versuchte, mich hineinzuquetschen, aber es gelang mir
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