Warten auf den Monsun
einen endlos langen Vortrag über den Wert von Erbauungslektüre hielt und sie erst gehen ließ, nachdem sie ihm versprochen hatte, das Buch zu lesen. Also nahm Charlotte das Buch, das er ihr reichte.
»Das ist ja sehr interessant.« Sie drehte es um und las flüchtig den Umschlagtext.
Der Pfarrrer blickte auf ihre rot lackierten Fingernägel. »Wie hat Ihnen das andere Buch gefallen?«
»Wirklich bemerkenswert.« Daß das Buch noch ungelesen auf einem Stapel in ihrem Wohnzimmer lag, ging Pfarrer Das nichts an. »Wenn Sie nichts dagegen haben, gehe ich jetzt zum Dienstagmorgenvortrag. Ich glaube, es hat schon angefangen«, sagte sie und wollte weitergehen.
Der Pfarrer nickte, trat aber nicht zur Seite. Er zeigte auf die Plakette über der Tür. »Ihr Vater …«
Charlotte blickte hoch auf die Reihe Namen an der Wand. Ihr Vater hatte sich immer damit gebrüstet, daß er den Bau der Bibliothek bezahlt hatte, und sie war froh, daß er nicht wußte, wie heruntergekommen sie nun aussah. Der Pfarrer rückte näher an sie heran. Charlotte versuchte einen Schritt zurückzutreten, aber der Tisch mit den Frauenzeitschriften machte es unmöglich.
»Mrs. Bridgwater …« Er schnaufte ein bißchen. »Ich sammle Geld für die Restaurierung der Bibliothek. Sie wissen doch, daß wir hier eine große Sammlung religiöser Bücher haben?« Er zeigte auf die hohen Regale hinter ihr, voller Bücher, die zum größten Teil noch nie jemand ausgeliehen hatte. »Ich dachte … es wäre wunderbar, wenn Sie … als eine Art Familientradition … eine Würdigung des Werks, das Ihr Vater seinerzeit … eine Spende leisten würden.«
Der vorvorige Pfarrer war kurz nach dem Tod von Mathilda Bridgwater beim Major erschienen und hatte ihn gefragt, ob er nicht zum Andenken an seine Frau eine Bibliothek gründen wolle. Der Major hatte ihm fest ins Gesicht geblickt – so lange, bis der Pfarrer unsicher geworden war und gemurmelt hatte, ein Bücherschrank sei auch willkommen. Victor Bridgwater hielt die Sache mit den Büchern für eine gute Idee, denn seine Frau war mit Vom Winde verweht in den abgemagerten Händen gestorben. Der Major brummte, er werde den Bau einer Bibliothek unterstützen, aber nur unter der Bedingung, daß alle religiösen Bücher ganz oben in den Regalen stünden. In seiner euphorischen Stimmung damals konnte der Pfarrer nicht ahnen, wie hoch die Regale sein würden; an die obersten Fächer kam nämlich niemand heran, und so blieb seine Büchersammlung ungelesen.
»Ich denke darüber nach«, sagte Charlotte nach einigem Zögern zu dem Pfarrer, und er ließ sie durch ins Damenzimmer.
1934
Rampur
Von unten erklingt Musik. Charlotte hockt neben der großen Standuhr, die neunmal schlägt. Alle Kerzen in dem riesigen Kronleuchter im Treppenhaus brennen. In der marmorgetäfelten Eingangshalle treffen die Offiziere der örtlichen britischen Armeebasis in ihren Galauniformen ein, am Arm ihre Frauen in prächtigen Abendkleidern. Die indischen Dienstboten tragen nagelneue Livreen, gelbe Jacken und dunkelblaue Hosen mit goldenen Biesen. Die Tür eines der Badezimmer öffnet sich, und eine Frau mit kunstvoll hochgestecktem blondem Haar tritt heraus. Sie trägt lange Ohrringe, ihre Lippen sind dunkelrot. Sie kichert, als ein Offizier mit vielen Orden auf der Brust ihren Arm nimmt und sie die Treppe hinabführt. Hinter sich hört Charlotte die Stimme ihres Vaters, schnell huscht sie wieder ins Kinderzimmer und schließt geräuschlos die Tür. Auf einer Matte neben ihrem Bett liegt Sita, ihre Ayah , und schläft. Sie haben den ganzen Tag miteinander gespielt, aber als sie für Charlotte ein Schlaflied sang, schlief die junge Inderin selbst ein. Das Mädchen schleicht weiter. Die Balkontür steht offen, sie blickt sich kurz um, aber Sita hat sie nicht gehört.
Die Auffahrt wird von Fackeln beleuchtet, und neben dem Haus parken glänzende Autos. Auf der breiten Treppe zum Haupteingang liegt ein roter Läufer, und Männer mit blauen Jacken und goldfarbenen Mützen stehen mit Federbüschen in den Händen Spalier. Bevor die Gäste ins Haus treten, streuen zwei Diener Rosenblätter vor ihre Füße. Der süße Duft steigt zum Balkon hoch. Charlotte wünscht sich, schon groß zu sein.
Hinter ihr ertönt plötzlich wieder die Stimme ihres Vaters. Sie duckt sich, aber merkt dann, daß er im Schlafzimmer ihrer Mutter ist, das an das Kinderzimmer grenzt. Charlotte kriecht zum offenen Fenster und linst über die Fensterbank in
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