Warten auf den Monsun
ausgetrocknet. Die Eukalyptusbäume an der langen Zufahrt warfen Schatten auf den Weg und sorgten für ein wenig Kühlung. Vor sich sah sie das Clubhaus, errichtet im klassischen englischen Countrystil und umgeben von hohen, alten Platanen. Hinter sich hörte sie ein Auto. Sie fuhr zur Seite. Der Ambassador von 1963 der Witwe Singh passierte sie in voller Fahrt, am Steuer der betagte Chauffeur. Charlotte hob die Hand nicht, denn die Witwe Singh winkte nie, sie schlief. Sie schlief immer, ob im Auto oder bei einem Vortrag. Kaum saß sie zwei Minuten irgendwo, sackte ihr Kopf nach vorn, und sie begann leise zu schnarchen. Charlotte genoß den Windstoß, der sie bei der Vorbeifahrt des Autos streifte.
Das Haus des New Rampur Club benötigte gelinde gesagt eine gründliche Sanierung, und für die Bibliothek galt das noch mehr. Die meisten der mehreren tausend Bücher waren von kleinen schwarzen Käfern angefressen, auch die Mäuse hatten sich ihren Anteil geholt, und durch die häufigen Wassereinbrüche während des Monsuns hatten sich die dicht an dicht stehenden Bücher auf den obersten Regalbrettern in Klumpen aus zusammenklebenden Seiten verwandelt. Es roch dumpf und modrig.
Pfarrer Das, der selten in den Club kam, ging mit einem schweren Bücherstapel in die Bibliothek. Schon mit zwanzig hatte er eine Glatze bekommen und vielleicht deshalb seine ganze Eitelkeit auf seinen Schnurrbart gerichtet, der imposant und schwarz gefärbt war. Er schob die Frauenzeitschriften auf dem Lesetisch beiseite und legte seine Bücher auf den Platz. Die Tür zum Damenzimmer stand einen Spalt offen, und er hörte das Geplapper des Dienstagmorgenclubs, dessen Mitglieder sich gerade dem Gastredner vorstellten. Ohne hinzusehen schloß er leise die Tür, in die abgedunkelte Bibliothek kehrte wieder Ruhe ein.
Der Pfarrer fuhr damit fort, seine Bücher aufzustellen. Über seinem Kopf lief der Ventilator auf der höchsten Stufe, und die einzige noch funktionierende Neonröhre sirrte. Vor fünf Monaten hatte der Damenclub auch ihn eingeladen. An seinen Vortrag über wohltätige Zwecke dachte er lieber nicht zurück. Wochenlang hatte er daran gefeilt und christliche Bettelbriefe aus ganz Indien in einer Plastikmappe gesammelt. Er hatte den Damen von Kinderarbeit, Armut auf dem Land, Ritualmorden und Witwenverbrennungen erzählt, aber sie hatten beschlossen, daß ihre jährliche Clubspende einer abtrünnigen Nonne aus Kalkutta zukommen solle, die ein Hundeasyl eröffnen wollte. Wie dieser Brief zwischen die anderen geraten war, konnte sich Pfarrer Das nicht erklären. Er hatte das Gesuch vorher nie gesehen und verdächtigte die Frauen, daß sie ihm die von Rechtschreibfehlern strotzende Epistel in seine Mappe geschoben hatten, als er einen Moment wegsah.
Verschwitzt und staubig trat Charlotte in die Bibliothek. Eigentlich hatte sie sich im Umkleideraum des Tennisplatzes frisch machen wollen, doch der war besetzt, also hatte sie sich in der Damentoilette Hände und Gesicht gewaschen, rasch die Haare gekämmt und den schlimmsten Staub vom Kleid geklopft. Sie wunderte sich, Pfarrer Das am Tisch mit den Frauenzeitschriften zu sehen, es wurde gemunkelt, er sei dem Club nur beigetreten, um seine Gemeindemitglieder besser kontrollieren zu können, und als sie ihn nun so verstohlen am Lesetisch sitzen sah, konnte sie sich vorstellen, daß die bösen Zungen die Wahrheit sprachen.
»Guten Morgen, Mrs. Bridgwater, wie geht es Ihnen?« sagte er genauso laut wie in seiner Kirche, und er dachte bei sich, daß sie trotz ihres Alters noch recht ansehnlich war.
»Danke, Herr Pfarrer, mir ist ein bißchen warm, aber sonst kann ich nicht klagen. Und Sie?« Charlotte wollte weitergehen, doch der Pfarrer stellte sich ihr in den Weg.
»Kennen Sie dieses Buch?« Er drückte ihr ein Buch mit dem Titel Der Herr, auch bei Regen mein Hirte in die Hand.
»Nein, aber ein bißchen Regen könnten wir gut gebrauchen. Und Kühle.« Charlotte stellte sich direkt unter den schnell rotierenden Ventilator.
»Das Buch ist sehr gut, ich habe es gerade aus, Sie müssen es lesen.« Er sprach nun leiser. »Es beschreibt die Probleme einer Immigrantenfamilie mit … äh … einem dementen Vater.«
Das letzte Mal, als Charlotte dem Pfarrer mit einem Stapel Bücher begegnet war, hatte er versucht, ihr ein Buch über eine Frau mit lockeren Sitten aufzuschwatzen, die Missionarin in Afrika geworden war. Sie hatte ihm gesagt, daß sie nur richtige Literatur mochte. Worauf er ihr
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