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Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt

Titel: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchester
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nahm und mein Vater ins Gefängnis musste? Wenn er behauptete, er hätte meinem Vater nur 10 Hongkongdollar ausbezahlt, aber dann in Wirklichkeit viel, viel mehr von seinem Konto abbuchte – eine unvorstellbar riesige Summe, 50 oder 100 Dollar vielleicht? Die Freizügigkeit, mit der das Ding Bargeld ausspuckte und mit der es jeden einzuladen schien, das Geld auch sofort fröhlich auszugeben, kam mir ganz entsetzlich leichtsinnig vor. Der Vorgang schien viel zu unkompliziert zu sein. Das Geld floss einfach von unserem Konto durch den Automaten hinaus in die Welt. Während mein Vater davorstand und verbissen seine PIN eintippte, klammerte ich mich verzweifelt an seinen Arm und flehte ihn an, damit aufzuhören.
    Der Angsthase in mir, damals, als ich acht war, hatte aber durchaus etwas Wichtiges erfasst. Die Reibungslosigkeit, mit der das Geld auf der ganzen Welt durch die Gegend geschoben wird, ist tatsächlich furchteinflößend. Sie ist wahrhaft schwindelerregend. Manchmal ergreift einen dieser Schwindel, wennman den Wirtschaftsteil der Zeitung liest und das Gefühl bekommt, nicht wirklich erfassen zu können, was diese Zahlen bedeuten – wofür all diese Millionen und Milliarden und Billionen tatsächlich stehen und wie man sie gedanklich greifbar machen soll.
    Probieren Sie einmal das folgende Experiment aus, das der Mathematiker John Allen Paulos in seinem Buch Zahlenblind beschreibt. 2 Raten Sie, ohne es auszurechnen, wie lang eine Million Sekunden dauern. Und jetzt versuchen Sie dasselbe bei einer Milliarde Sekunden. Sind Sie so weit? Eine Million Sekunden dauern weniger als 12 Tage, eine Milliarde dagegen fast 32 Jahre.
    Dieser Schwindel kann einen auch ergreifen, wenn man einen Kontoauszug anschaut und über die erschreckende Macht dieser Zahlenreihen nachdenkt; wie sie einem alles, aber auch alles vorschreiben können, angefangen bei dem, was man isst, bis hin zu dem Ort, wo man wohnt. Die Konsequenzen dieser abstrakten Ziffern sind so konkret wie nur irgendetwas auf der Welt. Oder der Schwindel stellt sich ein, wenn der weltweite Kapitalfluss einen plötzlich selbst in irgendeiner Weise betrifft – wenn Ihr scheinbar erfolgreicher Arbeitgeber aufgrund eines geplatzten Kredits in Konkurs geht oder wenn die Zahlungen für Ihre Hypothek so astronomisch in die Höhe schießen, dass Sie diese nicht mehr bedienen können – und wenn Sie dann denken: Was hat es eigentlich mit diesem ganzen finanziellen Kram genau auf sich? Ich kann seine Auswirkungen erkennen – ich kann einen Geldschein zwischen den Fingern reiben oder eine Münze angwerfen –, aber was ist das eigentlich genau? Wofür stehen all diese abstrakten Zahlen? Was wird dadurch repräsentiert? Würde man sich nicht sicherer fühlen, wenn es sich dabei mehr um eine greifbare, körperliche Sache und weniger um eine Idee handelte? Und dann verblasst der Gedanke und das Geld wird wieder zu dem, was es immer schon gewesen ist – einfach nur da, eine grundsätzliche Gegebenheit unserer Welt, deren Kommen und Gehen so vorhersehbar ist wiedie Wellen am Strand: Manchmal ist Flut undmanchmal Ebbe, aber wenigstens weiß man, dass dieses elementare Muster nach bekannten Regeln verläuft.
    Doch dann geschieht etwas, das unser Gefühl dafür, wie die Welt funktioniert, vollkommen auf den Kopf stellt. Für Rakel Stefánsdóttir, eine junge Frau aus Island, die an der Universität von Sussex in Brighton einen Masterstudiengang für Kunst- und Kulturmanagement belegt hatte, kam dieser Moment Anfang Oktober 2008. Sie steckte ihre Karte in den Automaten, um ein wenig Geld abzuheben, und als Nächstes wurde ihr mitgeteilt, dass keine Geldmittel zur Verfügung stünden. Rakel wunderte sich nicht weiter darüber. »Ich wusste, dass die Abbuchungen über die transatlantischen Telefonleitungen laufen und dass es da manchmal Probleme mit der Übertragung gibt, also dachte ich, es läge daran.« Ein oder zwei Tage zuvor hatte sie mit ihrer Bankkarte die Studiengebühren für das erste Semester bezahlt; sie war ein paar Jahre im Theater tätig gewesen, bevor sie an die Universität zurückkehrte, und verfügte daher über ausreichende finanzielle Mittel.
    Bestimmt ist es jedem von uns schon einmal passiert, dass wir unsere Karte in den Geldautomaten gesteckt haben und kein Geld abheben konnten, weil unser Konto gerade leer war. Aber was Rakel und vielen tausend anderen Isländern an diesem Tag passierte, war wesentlich seltsamer und beunruhigender. Ihre Karte funktionierte

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