Alanna - Das Lied der Loewin
1
Die Zwillinge
»Ich habe meine Entscheidung getroffen. Keine Diskussionen mehr«, sagte der Mann am Schreibtisch. Er schaute schon wieder in ein Buch. Seine beiden Kinder verließen den Raum und machten die Tür hinter sich zu.
»Er will uns nicht bei sich haben«, murrte der Junge. »Was wir wollen, interessiert ihn nicht.«
»Das ist ja nichts Neues«, antwortete das Mädchen. »Außer seinen Büchern und Schriftrollen interessiert ihn überhaupt nichts.«
Der Junge schlug mit der flachen Hand gegen die Wand. »Ich will aber kein Ritter werden! Ich will ein großer Zauberer werden! Ich will Dämonen töten und mit den Göttern wandeln...«
»Denkst du vielleicht, ich will eine Dame werden?«, fragte seine Schwester. »Geh langsam, Alanna«, fügte sie in gekünsteltem Tonfall hinzu. »Sitz still, Alanna. Halt die Schultern gerade, Alanna. Als könnte ich nichts Besseres mit mir anfangen!« Sie ging aufgeregt auf und ab. »Es muss einen Ausweg geben.«
Der Junge warf ihr einen Blick zu. Thom und Alanna von Trebond waren Zwillinge. Beide hatten rotes Haar und violettfarbene
Augen. Für die meisten Leute waren die beiden nur durch die unterschiedliche Länge ihrer Haare auseinanderzuhalten. Was Gesicht und Figur betraf, hätten die beiden genau gleich ausgesehen, wären sie gleich gekleidet gewesen.
»Find dich damit ab!«, meinte Thom zu seiner Schwester. »Du machst dich morgen auf den Weg ins Kloster, und ich muss in den Palast. Da ist nichts zu machen.«
»Warum solltest du den ganzen Spaß haben?«, stieß sie hervor. »Mir werden sie Nähen und Tanzen beibringen und du lernst Lanzenfechten und Degenfechten und ...«
»Meinst du vielleicht, so etwas macht mir Spaß?«, schrie er. »Ich hasse es, hinzufallen und auf irgendetwas einzuhauen! Du bist es, der so was gefällt, nicht ich!«
Sie grinste. »Du hättest Alanna werden müssen. Den Mädchen bringen sie immer das Zaubern bei ...« Der Gedanke kam ihr so schlagartig, dass sie nach Luft schnappte. »Thom! Das ist die Idee!«
An ihrem Gesichtsausdruck konnte Thom ablesen, dass seine Schwester mal wieder einen ihrer verrückten Einfälle hatte. »Was genau ist die Idee?«, fragte er misstrauisch.
Alanna sah sich um und vergewisserte sich, dass sich keine Bediensteten auf dem Flur aufhielten. »Morgen gibt er uns einen Brief für den Mann, der die Pagen ausbildet, und einen für die Leute im Kloster. Da du seine Handschrift fälschen kannst, könntest du ja neue Briefe verfassen und schreiben, wir seien Zwillingsbrüder. Du gehst ins Kloster und im Brief schreibst du, du solltest Zauberer werden. Du weißt ja – die Töchter der Göttin sind es, die den Jungen das Zaubern beibringen. Sobald du dann älter bist, schicken sie dich zu den Priestern. Und ich gehe in den Palast und lasse mich zum Ritter ausbilden!«
»Du spinnst doch!«, widersprach Thom. »Was ist mit deinem Haar? Und nackt schwimmen kannst du auch nicht. Und du wirst dich in eine Frau verwandeln – du weißt schon. Dann kriegst du Brüste und so.«
»Das Haar schneide ich einfach ab«, entgegnete sie. »Und – na ja, um den Rest kümmere ich mich dann, wenn es so weit ist.«
»Was ist mit Coram und Maude? Die werden uns begleiten und alle beide können uns auseinanderhalten. Sie wissen, dass wir keine Zwillingsbrüder sind.«
Sie kaute auf ihrem Daumen herum und überlegte. »Ich sage Coram, dass wir unseren Zauber mit ihm treiben, falls er etwas verlauten lässt«, sagte sie schließlich. »Das müsste ausreichen – er hasst Magie. Und mit Maude können wir vielleicht reden.«
Thom sah auf seine Hände hinunter und dachte nach. »Meinst du, wir könnten es schaffen?«, flüsterte er.
Alanna betrachtete das hoffnungsvolle Gesicht ihres Zwillingsbruders. Ein Teil von ihr wollte aufhören, bevor diese Sache zu weit ging, aber dieser Teil war nicht sehr groß. »Wenn du nicht die Nerven verlierst«, erklärte sie ihrem Bruder. Und ich auch nicht, dachte sie.
»Was ist mit Vater?« Thom schaute schon in die Ferne und sah die Stadt der Götter vor sich.
Alanna schüttelte den Kopf. »Sobald wir weg sind, vergisst er uns.« Sie beäugte Thom. »Ist dein Wunsch, Zauberer zu werden, stark genug?«, fragte sie ihn. »Wir werden jahrelang lernen und arbeiten müssen. Traust du dir das wirklich zu?«
Thom zog seinen Waffenrock gerade. Seine Augen waren kalt. »Zeig mir nur, wie wir es anstellen können!«
Alanna nickte. »Komm! Wir gehen Maude suchen!«
Maude, die
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