Was der Winter verschwieg (German Edition)
gedacht gewesen, aber das Paar hatte sich getrennt, bevor es auch nur einen Tag darin hatte wohnen können. Sophie behauptete, das mache ihr nichts aus, aber manchmal schaute sie sich um, sah die sorgfältig ausgewählten Armaturen und Farben und spürte eine gewisse Melancholie in sich aufsteigen. Ein neues Haus zu bauen war ein so hoffnungsvoller Akt, und doch war dieses Haus eine stete Erinnerung daran, dass trotz bester Vorsätze nicht immer alles so lief, wie man es sich vorgestellt hatte.
Meistens schaffte sie es, solche Gedanken beiseitezuschieben und sich schnell abzulenken. Was nicht sonderlich schwer war. Mel hatte ihr Baby bekommen – ein zauberhaftes kleines Mädchen – und Sophie übernahm immer mehr Arbeiten in der Kanzlei. Wenn sie auf Charlie aufpasste, erlebte sie Momente seligen Friedens und überschwänglicher Freude. Manchmal musste sie sich auch zur Geduld zwingen, doch sie liebte jede einzelne Minute. Trotz ihrer Differenzen mit Mrs Altshuler und den anderen Müttern nahm sie weiterhin aktiv am Eishockeyleben ihres Sohnes teil. Ihre glücklichsten Augenblicke waren die, wenn sie ihre Familie um sich versammelt hatte – Max, Daisy und Charlie. In diesen Momenten glaubte sie wirklich, dass sie in ihrem Leben alles hatte, was sie brauchte.
Dann kamen die Frühlingsferien, und sie war mit einem Mal ganz allein. Max fuhr mit seinem Vater und Nina zu einer Familienfeier der Romanos nach Miramar – seiner
anderen
Familie. Während seiner Abwesenheit kümmerte sich seine Freundin Chelsea um Opal, und Sophie stellte überrascht fest, wie leer das Haus ohne den Hund war. Daisy fuhr mit Charlie zu seinen Großeltern väterlicherseits – den O’Donnells – nach Long Island. Sie hatten endlich den Wunsch geäußert, ihren Enkel kennenzulernen. Besser spät als nie, dachte Sophie.
Kaum waren alle weg, kamen die düsteren Gedanken. Sie hatte sich nur vorgemacht, hier gebraucht zu werden. Niemand brauchte sie, zumindest nicht so, wie sie es gedacht hatte. Sie war nicht das Herz der Familie. Diese Rolle hatte sie vor Jahren aufgegeben. Es war verlockend – oh, so verlockend –, erneut zu fliehen, in eine Welt zurückzukehren, in die sie hineinpasste, in ein Leben, das sie kannte. Doch das würde sie nicht tun. Sie war entschlossen, die Versprechen zu halten, die sie gegeben hatte. Noch immer nahm sie eine wichtige Rolle im Leben ihrer Familie ein und konnte noch so einiges bewirken.
Die Bedürfnisse ihrer Kinder veränderten sich im Laufe der Zeit – sie nahmen nicht mehr Sophies ganze Zeit in Anspruch. Während dieses Winters hier hatte sie viele unerwartete Entdeckungen gemacht. Sie erkannte jetzt, dass sie ihren Kindern und ihrem Enkel alles geben konnte und ihre Fähigkeit zu lieben dadurch nicht abnahm, sondern im Gegenteil größer wurde. Was auf gewisse Weise ein zweifelhafter Segen war. Sie empfand die unterschiedlichsten Gefühle. Den bittersüßen Schmerz darüber, dass Daisy und Charlie sich in genau diesem Moment einer ganz neuen Familie öffneten. Den Stolz auf Max, der sich ihr bereits auf dem Weg zum Erwachsenwerden entzog und sich freute, im Sonnenschein Floridas die Mitglieder seiner Stieffamilie kennenzulernen.
Und dann war da noch die brennende Schneise, die Noah Shepherd hinterlassen hatte. Sollte sie jemals den Beweis gebraucht haben, dass es gefährlich war, die Kontrolle zu verlieren, dann hatte sie ihn jetzt bekommen. Mit Noah hatte sie sich vollkommen ihren Gefühlen und Sehnsüchten hingegeben, und jetzt zahlte ihr Herz den Preis dafür.
Sie saß in ihrem unscheinbaren Haus und schaute aus dem Fenster. Der Wetterbericht hatte vorausgesagt, der Frühling würde kommen, aber hier in Avalon bedeutete das lediglich, dass die Schneewehen entlang der Straße zu kleinen schmutzigen Häufchen zusammengesunken waren und das Eis auf dem See in viele kleine Schollen zerbrochen war. Es gab vermutlich sogar einen Namen für die Farbe des Himmels, aber sie fand es zu deprimierend, darüber nachzudenken.
Von Erinnerungen übermannt, zog sie ihr Hosenbein hoch und betrachtete die Narbe an ihrem Knie, eine blasse, sichelförmige Linie. Sie war immer noch sichtbar, tat aber nicht mehr weh. Das war die Hauptsache.
Sie hatte alles überlebt, was das Leben ihr beschert hatte. Sie würde auch das hier überleben.
Kurz entschlossen nahm sie das Telefon zur Hand und wählte Brooks’ Nummer. Er hatte kein Geheimnis aus seinem Interesse an ihr gemacht, und sie hatten oft miteinander
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