Was der Winter verschwieg (German Edition)
gelangen. Seine Kenntnisse über die Geografie Afrikas verdankte er seinem Abo des
National Geographic
und einigen Abhandlungen über Krankheiten von Primaten, die er während des Studiums hatte lesen müssen.
Nach und nach wurde Noah zu einem regelrechten Fachmann auf dem Gebiet der internationalen Politik. Er durchkämmte die Bibliothek und die Medien nach Informationen über die wechselvolle Geschichte des im Süden Afrikas liegenden Staates Umoja. Wieder und wieder tauchte der Name Sophie Bellamy auf, und langsam fing er an zu verstehen, was genau sie hinter sich gelassen hatte. Sie und ihre Mitarbeiter hatten es geschafft, eine friedliche Regierung in einem Land zu etablieren, das seit Generationen von Gewalt beherrscht worden war. Noah hatte immer gewusst, dass Sophie etwas Besonderes war, aber erst jetzt verstand er, wie sehr sie sich der Sache verpflichtet hatte und wie begabt sie in ihrem Beruf gewesen war. Sie nannte ihn den „Rehflüsterer“ und einen Helden, aber verglichen mit dem, was sie erreicht hatte, war das ein Witz. Und dann, in der Mitte ihres Lebens, hatte Sophie Bellamy eine Drehung um hundertachtzig Grad vollzogen und ihrem Leben eine völlig neue Wendung gegeben. Noah fragte sich, ob sie es bereute, ob sie manchmal den Weg anschaute, den sie nicht gewählt hatte, und sich wünschte, es doch getan zu haben.
All das führte ihn dazu, alles infrage zu stellen, was er über sich selbst zu wissen glaubte. Er hatte sein Leben immer ziemlich genau vor sich gesehen. Doch nun schien ihm seine felsenfeste Überzeugung, dass er dazu berufen war, sich hier in dem Haus, in dem er aufgewachsen war, um Tiere zu kümmern und eine Familie zu gründen, mit einem Mal gar nicht mehr so unumstößlich zu sein. Plötzlich fühlte sich die Welt, die er für sich aufgebaut hatte, sehr klein an. Beinahe erdrückend. Warum war er nicht mehr gereist? Hatte fremde Länder besucht? Eine andere Sprache gelernt? Sophie war in Afrika gewesen, verdammt noch mal. Er wünschte, er wäre auch mehr in der Welt herumgekommen. Doch jetzt hatte er seine Praxis und konnte nicht mehr weg. Oder doch? Immerhin hatte er eine Vereinbarung mit einem Tierarzt in Maplecrest getroffen. Sie sprangen füreinander ein, wenn es nötig war. Aber Himmel noch mal, er besaß ja noch nicht einmal einen Reisepass.
Bei dem Gedanken musste er über sich selbst lachen. Manche Probleme, dachte er, während er im Telefonbuch die Seiten mit den Behörden aufschlug, waren schneller zu lösen als andere.
Obwohl Sophie ihren Kindern versprochen hatte, sich ein Haus in Avalon zu kaufen, gelang es ihr nicht. Sie war zu sehr in Eile und hatte nicht die Geduld, auf die perfekte Immobilie zu warten. Sie ertrug es nicht, in Noahs Nähe zu wohnen, täglich all die Plätze zu sehen, die er ihr gezeigt hatte, sich mit jedem Schlag ihres Herzens an ihre gemeinsame Zeit zu erinnern.
Zwei Straßen von Daisy entfernt hatte sie ein Häuschen zur Miete gefunden, und bei gutem Wetter konnte sie sogar zu Fuß zur Kanzlei gehen. Sie redete sich ein, dass es so am besten war, auch wenn sie manchmal selbst nicht daran glaubte.
Nie würde sie den wahren Grund für ihren überstürzten Auszug nennen – dass Noah Shepherd jede Mauer durchbrochen hatte, die sie im Laufe der Jahre so sorgfältig um sich herum errichtet hatte. Dass er ihrem Herzen viel zu nahe gekommen war und sie – ganz ihrem alten Muster folgend – nur eine Möglichkeit gesehen hatte: nämlich die, Hals über Kopf zu fliehen.
Und das aus gutem Grund, wie sie sich einredete. Sie ertrug es nicht, an der Stelle vorbeizufahren, an der sie Noah das erste Mal über den Weg gelaufen war – inmitten des schlimmsten Schneesturms der letzten Jahre. Jetzt war der Straßengraben mit schmutzigem Schmelzwasser gefüllt, den Überresten eines langen Winters. Es war pure Folter für sie, auf den See hinauszuschauen, auf dem sie gemeinsam Schlittschuh gelaufen waren, wobei sie ihr mangelndes Können durch romantischen Enthusiasmus mehr als wettgemacht hatten. Sie konnte nicht mehr in dem Bett schlafen, das sie einst mit ihm geteilt hatte, oder noch länger an einem Ort verweilen, an dem sie mehr über sich selbst gelernt hatte als in ihrem ganzen bisherigen Leben. Alles, was sie an Noah erinnerte, war eine Qual für sie.
Das Haus, das sie gemietet hatte, war möbliert. Alles war hell und neu. Der Makler hatte ihr verraten, dass es im Zuge einer plötzlichen Scheidung frei geworden war. Es war einst als Zweitwohnsitz
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