Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
Vom Netzwerk:
ein Gefühl, über das man nicht offen reden wollte. Dann setzte er sich vor einen hin, sah einem tief in die Augen und erklärte, dass Familien so nicht funktionierten. Eine Familie war ein Team, eine Einheit, ein Mikrokosmos, das Einzige, an dem sich ihr Leben lang nichts ändern würde. »Wir verschließen unsere Haustür vor Fremden«, erklärte er, »aber niemals voreinander.«
    Also vereinnahmte er »Ich sehe das Hutzler« zum Wohl der ganzen Familie und spornte alle an mitzumachen. Auf die Weise wurde die letzte Meile auf der Autobahn fast unerträglich spannend. Die Schwestern reckten die Hälse und beugten sich in den alten Beckengurten weit nach vorn. So war das damals – Sicherheitsgurte nur auf langen Reisen, Fahrradhelme niemals, Skateboards aus rissigen Holzplanken und alten Rollschuhen zusammengeschraubt. In ihrem Gurt festgezurrt, spürte sie, wie sich ihr der Magen umdrehte und ihr Puls zu rasen begann – und wofür? Für die zweifelhafte Ehre, laut aussprechen zu dürfen, was sie sowieso schon immer als Erste gedacht hatte. Wie immer bei den Wettbewerben ihres Vaters gab es keinen Preis und keine tiefere Erkenntnis. Nachdem ihr der
Sieg nicht mehr gewiss war, tat sie, was sie immer tat – sie gab vor, dass es ihr gleichgültig war.
    Jetzt war sie wieder hier – sie ganz allein, der Sieg war ihr also gewiss. Doch noch immer verkrampfte sich ihr Magen. Sie wusste nichts davon, dass das Kaufhaus längst verschwunden war, dass sich alles um das einst vertraute Autobahnkreuz herum verändert hatte, heruntergekommen war. Das würdevolle Hutzler’s war nun einer schäbigen Value-City-Filiale gewichen. Gegenüber auf der anderen Seite des Highways war das Quality Inn zu einer dieser Lagerhallen umfunktioniert worden. Aus ihrem Blickwinkel konnte sie nicht erkennen, ob es das Howard Johnson noch gab, wo ihre Familie einmal die Woche zum Bratfischessen hingegangen war, aber sie bezweifelte es. Gab es überhaupt noch irgendwo ein Howard Johnson? Gab es sie noch? Ja und nein.
    Was sich als Nächstes ereignete, geschah innerhalb weniger Sekunden. Wenn man mal darüber nachdenkt, trifft das eigentlich auf alles zu. Das würde sie später bei der Vernehmung aussagen. Die Eiszeit war eine Sache von Sekunden; nur dass es viele davon hintereinander gab . Oh, sie schaffte es immer wieder, andere Leute für sich einzunehmen, wenn es sein musste. Zwar war diese Taktik längst nicht mehr überlebenswichtig für sie, es fiel ihr aber dennoch schwer, sie sich wieder abzugewöhnen. Die Beamten, die sie nach dem Unfall vernahmen, gaben vor, verärgert zu sein, doch sie merkte, dass sie sehr wohl die gewünschte Wirkung bei ihnen erzielte. Ihre Schilderung des Vorfalls hatte etwas atemberaubend Lebendiges, sie war spannender, als was die Polizei sonst zu hören bekam. Sie hatte nach rechts gesehen, nach Osten, hatte versucht, sich an all die Dinge aus ihrer Kindheit zu erinnern, und dabei die alte Warnung vergessen: Brücken überfrieren zuerst. Sie hatte ein merkwürdiges Kribbeln wahrgenommen, fast als ob ihr das Lenkrad aus der Hand geglitten wäre, aber in Wirklichkeit löste sich ihr Wagen von der Fahrbahn, verlor die Bodenhaftung, obwohl
der Schneeregen noch nicht eingesetzt hatte und der Straßenbelag knochentrocken aussah. Es war Öl, nicht Eis gewesen, von einem früheren Unfall, wie sie später erfuhr. Was hätte sie gegen diese Ölschicht denn tun können, die in der Märzdämmerung nicht zu sehen gewesen war? Woher erahnen sollen, dass ein Trupp Straßenbauarbeiter das ausgelaufene Öl nicht oder nicht ganz weggeputzt hatte? Irgendwo in Baltimore saß gerade wohl einer dieser Männer beim Abendessen, nicht ahnend, dass er gerade ein Leben zerstört hatte, und sie beneidete ihn um seine Ignoranz.
    Sie umklammerte das Lenkrad und trat mit aller Macht aufs Bremspedal, aber der Wagen gehorchte ihr nicht. Er schlitterte nach links wie die Nadel eines völlig außer Kontrolle geratenen Tachos. Der kastenförmige Wagen prallte von der linken Leitplanke ab und schlitterte quer über den Highway. Einen Moment lang sah es so aus, als wäre sie die Einzige auf der Straße, als wären alle anderen Fahrer vor Ehrfurcht erstarrt. Der alte Plymouth Valiant – der Name war ihr wie ein gutes Omen erschienen, er erinnerte sie an die Prince-Valiant-Comics in der Sonntagszeitung – schoss elegant über die Fahrbahn, wie ein Tänzer zwischen den trotzigen, am Boden festklebenden Autos der Pendler.
    Und dann, als sie gerade

Weitere Kostenlose Bücher