Was die Toten wissen
stellte sich heraus, dass der Mord bereits fünf, manchmal sogar zehn Jahre zurücklag.
Ganz am Anfang seiner Laufbahn hatte Infante an einem derartigen Fall gearbeitet, bei dem man von einem Mord ausging, aber die Leiche nie gefunden wurde. Es hatte sich um eine wohlhabende, einflussreiche Familie gehandelt, die über genug Mittel verfügte, um die Polizei verrückt zu machen. Als man den Angehörigen erklärte, dass das, was sie wollten – Suchtrupps, langwierige Laboruntersuchungen -, fast das gesamte Jahresbudget der Kripo verschlungen hätte, zuckten sie nur mit den Schultern und sagten: »Na und?« Es dauerte drei Jahre, bis die Leiche entdeckt wurde, von einem blasenschwachen Typen, der im Gebüsch mal pinkeln wollte, keine dreißig Meter von der Autobahn entfernt. Schädeltrauma verursacht durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand, folgerte der Leichenbeschauer, also in der Tat Mord. Aber weder die Leiche noch der Tatort ließen weitere Schlüsse zu, und der Ehemann, von Anfang an der Hauptverdächtige, war inzwischen gestorben. Die einzige Frage, die Infante weiterhin beschäftigte, war, ob der tödliche Schlag ein Unfall gewesen war, ein häuslicher Streit am Samstagabend, eine von vielen derartigen Handgreiflichkeiten, oder ob eine konkrete Tötungsabsicht dahintergesteckt hatte. Bevor der Ehemann dem Speiseröhrenkrebs erlag, hatte Infante geraume Zeit mit ihm verbracht. Der Mann hatte sogar geglaubt, Infante leistete ihm aus Freundschaft oder Gutmütigkeit Gesellschaft. Er mimte recht überzeugend den sich grämenden Gatten, und Infante kam zu dem Schluss, dass der Mann sich in der Rolle des Opfers sah. In seinen Augen hatte er nur ein bisschen nachgeholfen, ein Schubser, nicht stärker als die anderen Stöße und Hiebe, die er über die Jahre ausgeteilt hatte, nur diesmal war sie nicht wieder aufgestanden. Also hatte ihr Göttergatte sie in den Wald gebracht und abgeladen und den Rest seiner Tage in dem Glauben verbracht, unschuldig zu sein. Man hätte meinen
sollen, die Familie der Frau hätte sich damit zufriedengegeben, dass er eines schnellen und dazu noch grausamen Krebstodes sterben musste, aber es reichte ihnen nicht. Manche Leute sind nie zufrieden.
Infante kam unter der Dusche vor. Im Grunde war er nur eine halbe Stunde zu spät dran. Aber er kam fast um vor Hunger, und ein Drive-through reichte ihm jetzt nicht aus. Er fuhr zum Bel-Loc Diner, wo die Bedienungen ihn betüttelten und dafür sorgten, dass er sein Steak mit Ei genau so kriegte, wie er es bestellt hatte, das Eigelb noch fast roh. Er stach mit der Gabel hinein und ließ das Ei über das Steak laufen und fragte sich noch einmal: Was habe ich bloß, verdammt noch mal, getan, um Debbie so zu vergrätzen?
»Wir haben eine durchgeknallte Plaudertasche drüben im St.-Agnes-Krankenhaus, die behauptet, etwas über einen alten Mordfall zu wissen«, sagte sein Vorgesetzter, Sergeant Lenhardt. »Los, fahr da hin.«
»Aber ich arbeite am McGowan-Fall. Heute Morgen musste ich erst noch jemanden abpassen, bevor er zur Arbeit gegangen ist. Deshalb bin ich etwas später dran.«
»Es muss jemand hin, mit ihr reden. Wer nicht kommt zur rechten Zeit …«
»Ich sagte dir doch, ich war …«
»Ich weiß sehr wohl, was du mir erzählt hast. Das ist trotzdem kein Grund, die Diensteinteilung zu verpassen, Arschloch.«
Letztes Jahr, als die Abteilung knapp an Leuten war, waren Lenhardt und Infante zusammen in einem Team eingeteilt gewesen, doch Lenhardt ließ in letzter Zeit keine Gelegenheit aus, Infante zu zeigen, wer das Sagen hatte.
»Wozu denn? Du hast doch gesagt, sie ist geisteskrank.«
»Geisteskrank, oder sie erfindet den Mist, um davon abzulenken, dass sie bei einem schweren Unfall Fahrerflucht begangen hat.«
»Wissen wir denn, welchen Fall sie für uns aufdecken will?«
»Gestern Abend hat sie was von Bethany gemurmelt.«
»Bethany Beach? Das liegt doch noch nicht mal in Maryland, geschweige denn in unserem Bezirk.«
»Die Bethany-Schwestern, du Scherzkeks. Ein alter Vermisstenfall.«
»Und du gehst davon aus, dass sie durchgeknallt ist?«
»Ja.«
»Du verlangst von mir, dass ich einen halben Arbeitstag vergeude, nur um mit ihr zu sprechen. Noch dazu im St. Agnes, also am anderen Ende der Stadt?«
»Ja.«
Infante wandte sich gereizt und wütend zum Gehen. Also gut, er hatte ja eins auf die Nuss verdient, aber das konnte Lenhardt schließlich nicht wissen, deshalb war es unfair.
Der Sergeant rief ihm nach: »Hey,
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