Was gewesen wäre
hatte ich mich dorthin gesetzt und ärgerte mich darüber, während ich die Kopfformen der beiden Brüder verglich. Sascha eher rund und Julius eher eierig. Ich sagte nein, als mir Sascha eine Zigarette nach hinten reichen wollte, und war sauer, ohne dass es irgendjemand merkte oder störte.
Wir verließen Wittenberge wieder und hielten nach ein paar Kilometern an einem Elbdeich, liefen hinauf und legten uns auf der Flussseite ins Gras. Die Elbe lag breit und ruhig vor uns. Nur ein paar Enten quakten, und die Strömung bildete kleine Längswellen, die sich schnell wieder auflösten. Sascha holte mit einem lauten »Tata« einen Teebeutel aus der vorderen Tasche seiner Jeansjacke und legte ihn auf die Keksdose, die während der Fahrt auf seinen Knien gestanden und ihm als Trommel gedient hatte. »Teekenner Pfefferminze« las er vom Etikett des Teebeutels ab. »Aber wir haben doch gar kein kochend Wasser«, sagte ich. »Brauchen wir auch nicht, Assi«, sagte Julius, und sie lachten beide. Sascha fummelte ein kleines Loch in den Teebeutel: »Zwei Wochen Ferienarbeit letzten Winter bei ›Teekenner‹ in Bergedorf. Sechs Mark die Stunde. Nur deinetwegen, Bruderherz.« Er hielt den Beutel noch einmal am kleinen Band hoch: »Exakt 2,5 Gramm. Streng nach Vorschrift. Perfekt. Ich habe mir gleich mehrere Spezialbeutel gemacht. Dann kann ich auch mal ein paar mitnehmen nach Italien oder Mallorca oder so. Völlig gefahrlos, oder? Kommt kein Mensch drauf. Und im Zug hierher hatten die sogar Hunde. Aber eure Köter sind ja eher auf Menschenfleisch dressiert als auf Gras.«
Er streute ein bisschen von dem grünen Inhalt aus dem Teebeutel auf ein Stück Papier, gab Tabak dazu und drehte eine Zigarette daraus. Vorne formte er sie zu einer Spitze, leckte seinen Finger an und fuhr einmal herum. »Na, habt ihr so was Schönes schon mal gesehen?«
»Was macht ihr?«, fragte ich, und Julius sah mich an: »Wir kiffen.«
»Yeah, Bruder«, sagte Sascha und lachte.
»Sascha hat so viel davon erzählt das letzte Mal, und ich wollte das auch mal probieren. Ich hätte ja auch damit gewartet, bist du weg gewesen wärst, aber mein kleiner Bruder ist so ungeduldig.«
Sascha öffnete die Dose, und wir sahen alle hinein. Es lagen tatsächlich Schokokekse darin. »Habe ich selbst gebacken. Doktor Oetker Backmischung mit was drin, aber damit müsst ihr vorsichtiger sein. Das wirkt ganz anders. Viel intensiver.« Er lachte und zog dabei den Rotz hoch.
Ich versuchte die Bilder von ausgemergelten Heroinsüchtigen, die ich im Fernsehen gesehen hatte, wegzuschieben und dachte an Jana. Die würde hier keine Sekunde zögern. Julius beäugte mich unsicher, so als würde ich jeden Moment aufspringen und nach der Polizei rufen. Ich spürte, wie sich die Härchen an meinen Armen trotz der Wärme aufstellten. Sascha zündete diese dicke Zigarette an. »Du kannst gar nicht abwarten, bis ich wieder verschwunden bin, Julius Herne, wa?«, sagte ich, griff mir einen Keks und biss hinein. Er schmeckte süß und nach Schokolade.
Mir war nach einer Weile, als könnte ich alle Geräusche um mich herum voneinander getrennt hören und doch zusammen. Ich lag im Gras und hatte die Augen geschlossen. Zweimal hatte ich noch an der Zigarette gezogen. Der Fluss roch moderig und nach Fisch. Ein langer Lastkahn tuckerte die Elbe hinunter. Den hatte ich vorhin noch in einiger Entfernung gesehen. Der Motor stampfte laut und metallen und zog an uns vorbei. »Bald wird der in Hamburg sein bei Sascha, aber der ist ja hier.« Ich musste grinsen bei dem Gedanken und hatte das Gefühl, dass sich mein Gesicht wie von allein verzieht, wie in Zeitlupe, und dann so bleibt. Ich hörte die Jungs wiederkommen, die zum Wasser hinuntergelaufen waren, der Deckel der Dose klapperte, und Sascha sagte: »Mensch, nicht noch einen, Julius, das ist schon der vierte.« – »Das wirkt überhaupt nicht, das Zeug«, hörte ich Julius sagen, und Sascha lachte auf: »Nee, das sehe ich.« Ich wollte die Augen öffnen und ihnen zuwinken, aber etwas in mir wollte das nicht und ließ mich weiter lächeln. »Biste noch da, Assi?«, fragte Julius ganz nah über mir, und er küsste mich, und ich küsste ihn zurück. »Mhm.«
Ich schlief nicht wirklich ein, aber es war so, als würde ich durch meine Träume spazieren. Ich sah einen großen Setzkasten, in dem viele einzelne Menschen saßen, und mein Blick konnte nah und fern sein, dass ich sie allein betrachten konnte oder alle zusammen. Eine Frau, die auf
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