Die Unseligen: Thriller (German Edition)
1
Das Säuseln des Waldes war verstummt.
Die einzigen Hintergrundgeräusche waren jetzt das anhaltende Prasseln des Regens auf das Dach des Waisenhauses und die verängstigten Schreie der Kinder. Pater David war beunruhigt. Er stand an einem Fenster im ersten Stock und betrachtete die Wedel der Dattelpalme, die das große Holzkreuz in einem gleichbleibenden Takt peitschten. Dahinter wogte der in der Finsternis fast unsichtbare Dschungel im Rhythmus des Sturms.
Der katholische Missionar führte die Wasserflasche zum Mund. Die feuchte Luft des Deltas schien mit jeder Stunde unerträglicher zu werden. Er räusperte sich laut, spuckte in einen Aschenbecher und wischte sich die Lippen an einem Hemdsärmel ab. Weder das Wasser noch die Zigarren schafften es, seine Bronchien frei zu machen und den rostigen, erdigen Nachgeschmack auf der Zunge zu lindern.
Er hatte gerade sein achtundsechzigstes Jahr auf dieser Erde gefeiert, als die Sintflut eingesetzt hatte. Seit zwölf Tagen verdunkelten die Wasserhosen jegliches Licht, abgesehen von den hellweißen Adern der Blitze. Pater David seufzte und wandte sich von dem Fenster ab. Mit der Spitze seiner Sandale schob er den Blechtopf, der das Wasser aufnahm, das aus einem Riss in der Decke tropfte, ein Stück vor und drückte auf gut Glück auf den Schalter. Die nackte Glühbirne, die am Ende des ausgefransten Kabels pendelte, leuchtete nicht auf – es war zum Verzweifeln. Der Priester seufzte abermals und ließ sich in den alten Sessel fallen, gegenüber dem Kruzifix, das er schemenhaft über seinem Schreibtisch erkannte.
Am Morgen des dritten Tages war der Strom ausgefallen, und er kehrte nur noch ab und zu für ein oder zwei Stunden zurück. Das gesamte Waisenhaus der Petits Frères du Peuple lebte im Halbdunkel und in der Ungewissheit, ob die Nacht endlich dem Tag gewichen war. Auf alten Kochern, die sie gegen Medikamente eingetauscht hatten, erhitzten die Missionare Wasser und Milch für die Säuglinge. Die Vorräte der Apotheke waren um die Hälfte geschrumpft, und der leiseste Hustenanfall, der harmloseste Durchfall beunruhigten sie und ließen sie kein Auge zumachen.
Pater David durchwühlte seine Taschen und zog eine jener modrigen Zigarren heraus, die auf dem Markt von Owerri verkauft wurden. Er hatte den afrikanischen Kontinent von Kapstadt bis Somalia durchstreift, eine Reise, die er gleich nach dem Abschluss des Priesterseminars in Angriff genommen hatte und die ihm, mit nur fünfundzwanzig Jahren, schon graue Haare und den Körper eines völlig ausgelaugten Mannes eingebracht hatte. In Namibia hatte er im Busch gelebt, zu Beginn des Diamantenkriegs Sierra Leone durchquert, das Wort Gottes bis in den Sudan getragen, aber er konnte sich nicht erinnern, dass er schon einmal eine solche Hölle durchgemacht hatte. Zweifellos hing es mit seinem Alter zusammen, oder aber – er musste es gestehen – mit seinem Glauben, der im Lauf all dieser Jahre mehr und mehr verkümmert war.
Der erste Zug an seiner Zigarre erinnerte ihn daran, wie bitter der nigerianische Tabak war, genauso bitter wie das Fleisch und das Gemüse vom Ufer des Niger. Der Koch des Waisenhauses bestreute jedes Gericht dick mit Gewürzen und Küchenkräutern, um es essbar zu machen, aber selbst Safran und Zimt konnten diesen verfluchten bitteren Geschmack nicht überdecken. Sogar die Süßigkeiten, die die Priester manchmal für die Geburtstage ihrer Zöglinge kauften, schienen aus gepanschtem Zucker hergestellt worden zu sein.
Die ganze Region ist bis zu den Wurzeln vom Erdöl verseucht, dachte der Priester.
Der Schlamm des Niger, das Grundwasser, die Maniokfelder – alles war durch das aus defekten Pipelines heraussickernde Öl verpestet. Unentwegt lag der Gestank von verfaulenden Pflanzen in der Luft, und kein Sturm war stark genug, um diesen Geruch zu vertreiben. Die Regenfälle der letzten Tage hatten die Sumpflandschaft des Deltas überschwemmt, und eine dünne Schicht aus schwärzlichem Öl hatte die Felder überflutet, die Fischernetze verklebt und Hunderte von Fischen getötet, die an der Oberfläche des Flusses trieben.
So konnte es nicht weitergehen. Pater David stützte seinen Kopf auf die Rückenlehne. Die örtliche Bevölkerung litt zu sehr. Vor dem Hintergrund des obszönen Reichtums der Mineralölkonzerne zeichnete sich die Not der Bewohner des Deltas allzu deutlich ab. Schon bald würde sich eine Woge der Empörung erheben, davon war er überzeugt, ja, er wünschte es sich
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