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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregor Sander
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unter den Augen. Dann zog sie mit einem Schwung das Tuch vom Kopf wie einen Hut und warf es auf den leeren Stuhl neben sich. Ihr Kopf war völlig kahl, und man sah der hellen, glatten Haut an, dass sie nicht rasiert war, sondern dass die Haare ausgefallen waren. Sie strich sich mit den Fingern über den Kopf und beugte ihn dabei leicht nach vorn. Die Finger waren muskulös, faltig und rau, und sie trug keine Ringe. Langsam legte sie die Arme auf den Tisch und sah mich an.
    »Ich muss mich bei dir entschuldigen«, begann sie und wirkte fahrig dabei. Nervös. Ich war erstaunt, und statt etwas zu sagen, deutete ich mit dem Finger auf mich, so als hätte ich nicht genau verstanden, was sie gesagt hatte.
    Sie nickte: »Ja, entschuldigen. Bei dir. Das ist mir wichtig. Du verstehst das natürlich noch gar nicht, aber ich werde es dir erklären.«
    Ich hatte vor zwei Jahren ihre große Ausstellung in der Nationalgalerie am Potsdamer Platz gesehen. Mit meiner Mutter bin ich damals extra nach Berlin gefahren. »Zeitengrenzen« stand in großen schwarzen Lettern auf einem riesigen weißen Tuch, das an ein Laken erinnerte. Und »Katharina Herne«. Wir gingen vom S-Bahnhof über die Einöde des Potsdamer Platzes. Das Unkraut stand hüfthoch, und die Philharmonie, die Staatsbibliothek und die Nationalgalerie wirkten in weiter Ferne wie futuristische Filmkulissen. Dazwischen ein Nichts aus Sand und Gras. Meine Mutter hatte sich bei mir eingehängt. »Wie nach’m Krieg«, sagte sie. Katharina hatte sie nie kennengelernt, und sie hatte auch Julius nur zweimal gesehen, ganz kurz, als der mich zu Hause abholte. Ich habe ihn damals vor ihr versteckt, und er war ganz froh darüber gewesen. Trotzdem hatte sie natürlich eine Meinung zu beiden. Ein Fatzke sei Julius gewesen mit seinem kurzen Zopf, der ausgesehen habe wie ein Stummelschwanz, und Katharina eine unmögliche Person. Die kannte sie nur aus dem Fernsehen. Ich habe ihr nie erzählt, wie Julius in den Westen gekommen ist.
    Neben dem Eingang hing ein Porträt von Katharina, das doppelt so groß war wie ich. Nur ihr Kopf war da drauf, und sie blickte starr in die Kamera wie auf einem Polizeifoto, so als wäre sie gerade verhaftet worden. Die Haare straff nach hinten gebunden. Ich erkannte in der Ausstellung zwei kleine Holzskulpturen aus dem Atelier am Forsthaus. Mir gefielen ihre Collagen und übermalten Fotos. Das sah leicht aus und hatte Humor. Auf vielen war sie selbst, nackt manchmal und schön. Auf einem großen Foto, das breit war wie eine Panoramatapete, stand sie in einer Lederjacke mit Bierflasche in der Hand vor einer Reihe Honecker- und Stoph-Porträts, die immer im Wechsel hinter ihr gehängt waren. In einer scheinbar endlosen Reihe. Jedem Bild hatte sie eine rote Clownsnase gemalt, und sie prostete ihnen von unten mit der Bierflasche zu. »Überkandidelt« fand meine Mutter das.
    In einem abgedunkelten kleinen Nebenraum lief surrend ein Filmprojektor. Und dann sah ich mich auf dem Fuß von Julius hocken, das heißt man konnte mein Gesicht nicht sehen, nur meine Arme, die sein Bein umklammerten, und wie er dann losging. In den See hinein. Mir kam das plötzlich wie gestern vor. Als spürte ich die Sonne auf der Haut, als könnte ich seine Haut riechen und die Haare an der Wange spüren. Auch Julius war nicht zu erkennen. Er stapfte in den See hinein, mein Gesicht blieb verborgen, die Kamera folgte uns leicht wackelnd. Dann hatte Katharina die Geschwindigkeit verlangsamt, ich war für eine Ewigkeit unter Wasser, und plötzlich schoss ich heraus. Man erkannte gar nicht, dass das ein Mensch war, der da durch die Wasseroberfläche brach. Konnte kaum Arme und Beine erkennen, und dann fuhr die Kamera doch an Julius hoch, und man sah sein erschrockenes Gesicht. »Angriff« hieß der Film, und er begann sofort noch einmal. Ich sah ihn mir immer wieder an. Meine Mutter ließ mich stehen und lief alleine weiter, und nach einer Weile kam sie wieder und sagte: »Komm, Kind. So toll ist das nun auch wieder nicht.«
    »Das bin ich«, sagte ich, und meine Mutter ließ meinen Arm los und sagte: »Das ist ja ein Ding.«
    Ich stellte ein Glas Leitungswasser vor Katharina auf den Küchentisch. Sie hatte nicht darum gebeten, aber ich war verunsichert, und diese gewohnten Bewegungen einer Gastgeberin taten mir gut. Sie sah das Wasser an und dann mich und lächelte. »Ich war mir sicher, dass du dabei gewesen bist. Dass du den Julius für die Stasi nach Westberlin gelockt hast. Damit ich

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