Mithgar 10 - Die schwarze Flut
ERSTES KAPITEL
Der große Abschied
Ein letztes Mal beschleunigte der junge Wurrling und stürmte durch den knöcheltiefen Schnee, das schwarze Haar wehend im Nacken. Mit einem Bogen in der Hand, an dessen Sehne er bereits einen Pfeil gelegt hatte, spurtete er zu einem umgestürzten Baumstamm, wobei der Schnee in Klumpen von seinen Stiefeln stob. Dabei verursachte er so gut wie kein Geräusch, denn er war einer vom Kleinen Volk.
Im Nu hatte er den Baumstamm erreicht, wo er lautlos auf ein Knie sank, den Bogen bis zum Anschlag spannte und den Pfeil mit einem kurzen, surrenden Ton der Sehne losließ. Noch bevor das Geschoss an seinem Ziel angelangt war, flog ein zweiter Pfeil, dann noch einer und noch einer - insgesamt fünf Pfeile wurden in rascher Folge abgeschossen, sausten zischend durch die Luft und fanden mit tödlicher Genauigkeit ihr Ziel.
»Donnerwetter! Genau in die Mitte, Tuck«, rief der alte Barlo, als der letzte Pfeil mit einem dumpfen Laut einschlug. »Das sind vier von fünf, und den letzten hättst du auch geschafft, wenn du nur ein bisschen gewartet hättest.« Der alte Barlo, ein Greiser, erhob sich zu seiner vollen Größe von drei Fuß und zwei Zoll, drehte sich um und sah die übrigen Jungbokker auf dem schneebedeckten Hang aus seinen smaragdgrünen Augen schräg an. »Jetzt sag ich euch Hohlköpfen mal was: Spannt schnell und lasst rasch los, aber erst, wenn die Richtung stimmt. Denn die Pfeile, die sich verirrn, kannst du genauso gut verliern. Die nützen dir nichts.« Barlo drehte sich wieder zu Tuck um.
»Klaub deine Pfeile zusammen, Bursche, und dann setz dich hin und verschnauf. Wer ist als Nächster dran? Na, dann mal rauf hier, Tarpi, du alter Langweiler.«
Tuck Sunderbank steckte seine kalten Hände wieder in die Fäustlinge und zog rasch seine fünf Pfeile aus der ramponierten schwarzen Wolfsattrappe auf dem Heuschober. Sein Atem dampfte in der kalten Luft, als er durch den Schnee zu der Gruppe von Bogenschützen zurückstapfte, die das Geschehen vom Rand der Wiese aus verfolgten. Dort setzte er sich auf einen umgestürzten Baumstamm und lehnte seinen Bogen an einen kahlen Baum daneben. Während Tuck zusah, wie der kleine Tarpi in Richtung Ziel spurtete, um seine Pfeile auf das mit Schnüren markierte Ziel abzuschießen, beugte sich Danner Brombeerdorn, der Jungbokker neben ihm, zu ihm hinüber. »Vier von fünf, also ehrlich, Tuck«, sagte Danner. »Dabei hat dein erster Pfeil doch den Ring noch gestreift, aber Barlo rechnet ihn dir nicht an, das kann ich dir garantieren.«
»Ach, weißt du, der alte Barlo hat schon recht«., entgegnete Tuck. »Ich habe überhastet geschossen. Der Pfeil war außerhalb, er hat richtig entschieden. Du müsstest eigentlich wissen, dass er gerecht ist, Danner. Du bist der beste Schütze von uns, und genau das sagt er auch. Du bist zu streng mit ihm. Er ist nicht knickrig, er erwartet nur, dass wir es richtig machen - und zwar jedes Mal.«
»Hm«, brummte Danner und sah nicht sehr überzeugt aus.
Tuck und Danner verstummten; sie schauten zu, wie der alte Barlo Tarpi Anweisungen erteilte, und sie lauschten aufmerksam jedem seiner Worte. Es war wichtig, dass sie und alle anderen tapferen Jugendlichen von Waldsenken meisterhafte Bogenschützen wurden. Seit von den weit entfernten Grenzen des Nordtals die Nachricht eingetroffen war, dass Wölfe herumstreunten - und noch dazu im Herbst -, befanden sich viele oder praktisch alle Jungbokker (das ist bei männlichen Wurrlingen die Zeit zwischen dem Ende der Kindheit mit zwanzig und der Volljährigkeit mit dreißig) der Sieben Täler in Ausbildung oder würden sie demnächst beginnen.
Noch vor Einbruch des Winters, der dieses Jahr früh und heftig zugeschlagen und einen Großteil der späten Ernte vernichtet hatte, waren oben im Norden wilde Wölfe gesehen worden, die in großen Rudeln umherstreiften; und auch seltsame Männer hatte man in den Weiten jenseits des Dornwalls beobachtet. Es gab Gerüchte, dass gelegentlich ein, zwei Wurrlinge - oder sogar ganze Familien - auf geheimnisvolle Weise verschwanden; wohin sie aber verschwanden oder was genau aus ihnen wurde, schien niemand zu wissen. Und manche Leute behaupteten, sie hätten gehört, dass sich etwas schrecklich Böses weit im Norden, in der Wüste von Gron, ausbreite. Jedenfalls hatte es nicht mehr so schlimm gestanden, seit der flammende Drachenstern mit seinem lodernden Schweif lautlos über den Himmel gezogen war und in seiner Folge
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