Was im Dunkeln liegt
damit die Realität meines Adergeflechts und meiner Cellulite. 1972 hatte ich keine Cellulite. Und ich glaube, auch sonst niemand. Ist das nicht eines dieser Dinge, die seither erfunden wurden? Damals waren zelluläre Angelegenheiten für uns kein Thema: Cellulite, Mobiltelefone, Stammzellenforschung – dies alles lag in ferner Zukunft.
Während ich mich abtrockne, setzt Marjorie ihre Schimpftirade fort. »Im Grunde ist es doch so: Wenn man etwas protokolliert und dies nicht genau dem Wortlaut dessen, was gesagt wurde, entspricht, dann ist das, tja, glatter Betrug, oder?«
Ich lege einen weiteren Satz, der mit Liebe Mrs Ivanisovic
beginnt, im Hinterkopf ab, ehe ich laut sage: »Ich glaube, bei einer schwierigen Diskussion kann sich im Protokoll auch mal ein Fehler einschleichen.« So bin ich: immer darauf bedacht, im Zweifelsfall zu jemandes Gunsten zu entscheiden. Immer diplomatisch. Immer bestrebt, nicht verletzend zu sein. Und deshalb endet man dann auch eingequetscht auf der Rückbank eines Ford Anglia neben einem Mädchen, das man erst ein paar Stunden kennt. Nur weil man zu höflich ist, um zu widersprechen. Jemand anderer hätte vielleicht behauptet, es sei nicht genügend Platz im Wagen – aber die gute alte Katy rutscht einfach zur Seite, drückt sich wie ein Möbelstück in die Ecke eines backofenheißen Wagens, dessen hintere Fenster sich nur einen Zentimeter weit öffnen lassen. Klimaanlage? Soll das ein Witz sein? Im Jahr 1972?
Marjorie will den Hinweis auf ein versehentliches Missverständnis nicht gelten lassen. Das Protokoll wurde gefälscht. Sie ist dadurch in ihrem tiefsten Inneren gekränkt. Müßig frage ich mich, worum es wohl ging – eine öffentliche Danksagung? Jemand, der ein halbes Dutzend mehr Briefmarken für sich beanspruchte, als ihm rechtmäßig zustand? »Ich habe noch nie im Leben betrogen«, sagt sie affektiert. »Und ich will mit keiner Art von Betrug in Verbindung gebracht werden – oder mit Menschen, die lügen.«
Der verrückte Drang überkommt mich, ihre Hand zu nehmen und ihr feierlich Lebewohl zu sagen. Wenn sie ihren Ruf schon durch die Verbindung mit George und seiner zweifelhaften Protokollführung in Gefahr sieht, o Mann, wie würde sie dann erst ausflippen, wüsste sie ein wenig mehr über die Bekannte, mit der sie ihre täglichen Schwimmrunden absolviert. Natürlich halte ich mich zurück.
Ich werfe ihr lediglich mein übliches »Also dann, bis morgen« zu.
Auf dem Heimweg kann ich mich wieder ungestört dem Problem mit Mrs Ivanisovic zuwenden. Sie kennt meine Adresse seit Ewigkeiten – warum hat sie mir also nicht schon vorher einen Brief geschrieben? Ist irgendetwas geschehen, das sie gerade jetzt dazu veranlasst hat? Die Existenz dieses unbekannten Faktors beunruhigt mich mehr als alles andere. Ist irgendeine alte Erinnerung aufgetaucht – ein Teil des Puzzles, das sich nicht richtig einfügen lässt? Und falls ja, würde sie es jemand anderem gegenüber erwähnen? Oder könnte es etwas mit dem Ort selbst zu tun haben? Weiß sie etwas, das ich nicht weiß? Wurde irgendetwas gefunden? Ich bekomme die Zeitung nicht regelmäßig – eine kleine Meldung könnte mir durchaus entgangen sein. Heutzutage kann man ja mit extrem wenig extrem viel herausfinden. Nicht nur das Wissen über Zellen ist sprunghaft angestiegen, es gab auch riesige Fortschritte in der forensischen Medizin – Zeug, wovon wir uns niemals hätten träumen lassen, wie zum Beispiel die DNA: was natürlich, wie mir bei genauerem Nachdenken klar wird, auch wieder mit Zellen zu tun hat.
Vielleicht sollte ich hinfahren und mal einen Blick darauf werfen. Ich nehme an, der öffentliche Spazierweg verläuft nach wie vor direkt entlang der Grenze zum Grundstück. Sollten dort irgendwelche Aktivitäten stattgefunden haben, würde es mir auffallen. Dort befindet sich auch der Wald, Bettis Wood. Ich möchte nicht dorthin zurück, aber vielleicht sollte ich es dennoch tun. Der Gedanke flackert gefährlich. Ich lege ihn auf Eis, während ich weiterhin über Mrs Ivanisovics Brief nachsinne. Es ist keine gute Idee, ihn zu lange unbeantwortet zu lassen.
Eine glatte Absage könnte womöglich verheerende Folgen haben, da ich nicht weiß, welche Trümpfe sie in der Hand hat.
Wäre es ein gewöhnliches Problem, könnte ich mit Freunden darüber reden. Im Lauf der Jahre habe ich einige gute Freunde gewonnen – Menschen, die über alle möglichen Arten von Wissen und
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